laut.de-Kritik
Jazz ohne Grenzen.
Review von Sven KabelitzDie Musikgeschichte steckt voller meist verzichtbarer Hidden Tracks. Mal werden sie einfach nicht ausgewiesen, mal nach langen Pausen gepappt, mal vor dem ersten Song versteckt. Obwohl Kamasi Washington schon mit seinem fast dreistündigen Debüt "The Epic" zur Uferlosigkeit neigte, reicht ihm dies nun nicht. Auf den ersten Blick teilt sich "Heaven And Earth" in zwei Hälften, den Himmel und die Erde. Doch dazwischen versteckte der Schlingel in der CD-Hülle noch das Hidden-Album "The Choice": Weitere 40 Minuten Musik, die es - momentan - nicht als Stream gibt und die sich am besten mit einem sehr scharfen Messer aus ihrem Gefängnis befreien lassen.
Im Grunde beschreibt dieses Versteckspiel Washington perfekt. Weder in seiner Musik, noch in seinem Output und Aussagen kennt der Tenorsaxophonist, Bandleader, Komponist und Produzent Grenzen. Der Jazz sprudelt nur so aus ihm heraus. Allein in seinen ersten drei Karrierejahren veröffentlichte er mehr als manche Acts in ihrer ganzen Karriere. Seine Kompositionen und mit Chören und Orchester ausgeschmückten Arrangements sind überlebensgroß, opulent und pompös. Zwischen die Stücke lässt er live Sätze wie "Vielfalt ist nicht etwas, was wir tolerieren, sondern feiern sollten" fallen. Washington zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Als wolle er, dass man nie wieder andere Musik als seine braucht.
Washingtons größter Verdienst bleibt, dass er all dieses Übermaß, vor dem man sich unheimlich klein fühlt, so verpackt, dass es niemals unangenehm protzig wirkt. Auf dem mit "The Choice" insgesamt über drei Stunden dauernden "Heaven And Earth" gibt es auch keinen wirklichen Durchhänger. All das macht Sinn, bleibt sympathisch und liefert zudem - bei aller Verkopfheit - Spaß und Freiheit.
Auf dem einen Hauptlongplayer, "Earth", gibt sich Washington in Gesellschaft seines über 50 Mitglieder umfassenden Ensembles, zu denen auch wieder Thundercat (Bass), Brandon Coleman (Keyboards) und Ronald Bruner Jr. (Schlagzeug) gehören, sehr bestimmt. Hier bindet er das Politische besonders deutlich in seinen Jazz ein. Im "Himmel" wirkt er dagegen entrückter und lässt dem Zuhörer Zeit. Es ist ein bessere Ort, an dem wir uns hoffentlich nach all dem Trubel und Krawall irgendwann wiederfinden.
Bei der musikalischen Umsetzung orientiert sich Washingtons an seinen Haupteinflüsse John Coltrane, Pharoah Sanders und Sun Ras Afrofuturism, Fusion, Hard Bop, P-Funk und die Haltung des Hip Hop. Dabei bleibt er gerade in der Variationsbreite seiner Soli deutlich hinter den Vorbildern, was sich gerade live besonders offenbart.
Trotzdem führt "Heaven & Earth" im ersten Moment an die Grenzen der Auffassungsgabe: Allein aufgrund der Masse an Input fühlt sich das Gehirn unendlich klein. Zum Einstieg nimmt einen dann mit "Fists Of Fury" noch ausgerechnet eine Faust an die Hand. Der aus dem Bruce Lee-Film "Todesgrüße aus Shanghai" stammende Opener wandelt Washington in ein politisches Statement um, legt der Sängerin Patrice Quinn "Our time as victims is over, we will no longer ask for justice / Instead we will take our retribution" in den Mund. Der ursprünglichen Melodie folgen er und seine Band geradezu schwelgerisch.
Nicht das einzige Cover: Freddie Hubbards "Hub-Tones" unterlegt Washington mit Latinrhythmen, teilt sich das Rampenlicht mit Dontae Winslows Trompetenspiel. Hinzu kommen auf "The Choice" die beiden Soul-Klassiker "Will You Love Me Tomorrow" (The Shireless) und "Ooh Child" (Five Stairsteps), das durch die Guardians Of The Galaxy zuletzt wieder einen Bekanntheitsschub erhielt.
Einen weiteren Popkultur-Verweis bietet das vom Future Funk und R'n'B durchzogene "Street Fighter Mas". "Ich dachte früher mal, ich wäre der beste 'Street Fighter'-Spieler der Welt", erzählte Washington dem Spiegel in einem Interview. "Also dachte ich, ich brauche einen Theme-Song, den sie spielen können, wenn ich die Arcade betrete." Das von seinem Sidekick Ryan Porter (Posaune) geschriebene "The Psalmnist" bietet genug Raum, um die beiden beiden Schlagzeuger Tony Austin und Ronald Bruner Jr. gegeneinander antreten zu lassen. "Fight!"
Der Weg in den Himmel und darüber hinaus führt über "The Space Travelers Lullaby". Eine spirituelle Reise, in deren Zentrum warme Streicher und ätherische Chöre hin und her wogen. Das zu allen Seiten offene "Vi Lua Vi Sol" verbindet Afrobeat mit Colemans sich vor Roger Troutman (Zapp, 2Pacs "California Love") verbeugenden Talkbox-Vocals. Dabei bleibt der Positivismus das Element, das die einzelnen Stücke auf Kamasi Washingtons "Heaven And Earth" verbindet. Wenn der Chor in "Will You Sing" schlussendlich "With our songs one day we'll change the world" anstimmt, möchte man ihm fast glauben.
4 Kommentare mit 2 Antworten
Unglaublich gutes Album!
Wenn Washington es schafft, den Jazz ein wenig mehr in den Mainstream zu rücken, bin ich froh drum. Physische Verkaufszahlen von knapp 2000 werden in dem Milieu als sehr erfolgreich angesehen, wäre schön wenn sich das mal ändert.
Gegenseite: Finde seine Musik extrem langweilig. Sowohl harmonisch als auch melodisch passiert da wenig bis nichts über 10 min. Das ist mir alles zu atmosphärisch, nicht genügend Kontrapunkt, keine Abwechslung in der Klangfarbe...die Vergleiche mit Coltrane, die einige Medien bei diesem Album ziehen, finde ich gar frech...
Kenner werden diesen Hype richtig einordnen können.
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
Sehe ich bisher genauso. Es kommt für mich letzte Endes keine Intensität rüber. Eine große Schwachstelle sehe ich vor allem in den Solos, die oft minutenlang auf der Stelle treten, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Dadurch verliert sich die Musik all zu sehr ins Monotone. Deswegen hat "The Epic" für mich auch schnell an Reiz verloren. "Heaven & Earth" werde ich dennoch mal eine Chance geben.
Danke für den Tipp! Ich hätte die CD im Leben nicht gefunden... Was für eine geile Überraschung!
Ja ein super Album, aber keine neuerfindung des jazz. Macht aber sehr viel fun!