laut.de-Kritik

Mit nichts beginnen und daraus ein Universum bauen.

Review von

Salle Pleyel, Paris, 26. November 2008. Wieder einmal begibt sich Altmeister Keith Jarrett an einen Konzertflügel, um, wie er selbst sagt, "mit nichts zu beginnen und ein Universum zu bauen". Die völlig improvisierten Sologigs des Ausnahmepianisten genießen weltweiten Kultstatus. Auch an diesem Abend zeigt sich das Publikum überaus begeistert.

Gespannt lauscht es, wie Jarrett zu Beginn ein Klanggemälde hervorzaubert, dessen mystische Verklärtheit an die Kompositionen der Romantik erinnert. Ganz allmählich treibt das Spontanerzeugnis ins schwermütige Dunkel - und gibt damit die Richtung des Abends vor. Die desolate Verfassung des Protagonisten bleibt stets hör- und spürbar.

Seine Frau habe ihn nach 30-jähriger Ehe verlassen, schreibt Jarrett in den Linernotes. Ein Schock für den Pianisten. Um am Leben zu bleiben, lässt er kurzerhand zwei Solokonzerte in europäischen Gefilden organisieren. Neben dem in Paris eines in London, das ebenfalls in diesem Boxset enthalten ist.

"Ich hatte viele körperliche Beschwerden, die mich davon abhielten, körperlich fit zu sein, dazu Stress, dazu eine Leere, die überwältigend war, etc. Ich machte mir klar: Wenn ich jetzt aufgab, würde ich endgültig aufgeben. Ich sagte meinen Klavierschülern immer: 'Wenn du spielst, spiele, als wäre es das letzte Mal'. Das war jetzt kein theoretischer Ratschlag mehr; das war real. Das würde entweder mein Überleben oder meinen Niedergang herbeiführen", schreibt der Musiker.

Diesen Ehrgeiz hört man dem Album zweifellos an. Jarrett wartet mit all dem auf, was er in den zahlreichen Jahren seiner Karriere zur Meisterschaft führte. Die einzelnen Abschnitte, im Vergleich zu früheren Aufnahmen kürzer gehalten, bieten dissonante Staccato-Inventionen, großflächige Klangteppiche, wohlklingende Melodien und Boogie-Exkursionen mit den typischen Ostinatofiguren. Dieses breite Spektrum unterhält zwar und präsentiert sich auf einem extrem hohen Niveau, Verzückung will sich aber dennoch nicht einstellen.

Das liegt weniger am Ausbleiben überraschender Innovationen; vielmehr klingen die Improvisationen oft eher nach hartem Kampf als nach losgelöster Kreativität. Während zahlreicher Langzeit-Läufe oder romantischer Akkordwanderungen beschleicht mich besonders beim Pariser Konzert der Eindruck, Jarrett suche verzweifelt nach einer geeigneten Fortführung seines akustischen Aufbruchs ins Ungewisse.

Im Verlauf des Londoner Auftritts erscheint Jarrett glücklicherweise zunehmend inspirierter. Nach einem melancholischen Einstieg übernehmen schon bald Boogie und Blues das Regiment. Deren Energie überträgt sich sogar auf die Balladen. Auf diese Weise entsteht der abschließende "Part XII". Das grandiose Stück beweist einmal mehr das Genie des Pianisten. Man kann ihm getrost recht geben, wenn er schreibt: "Am Ende wurde es irgendwie zu einer pulsierenden, nie-mehr-wiederholbaren Rockband von einem Konzert (Wenn es nicht ein Gottesdienst war. In dem Fall: Hallelujah!)".

Gerade solche Glanzleistungen lassen hoffen, dass der Titel "Testament" keinen Verweis auf ein baldiges Karriere-Aus darstellt. Keith Jarrett bereichert die improvisierte Musik nach wie vor - auch wenn das aktuelle Werk nicht an die Genialität der Solokonzerte aus Köln, Bregenz oder der Carnegie Hall heran reicht.

Trackliste

Paris

  1. 1. Part I
  2. 2. Part II
  3. 3. Part III
  4. 4. Part IV
  5. 5. Part V
  6. 6. Part VI
  7. 7. Part VII
  8. 8. Part VIII

London 1

  1. 1. Part I
  2. 2. Part II
  3. 3. Part III
  4. 4. Part IV
  5. 5. Part V
  6. 6. Part VI

London 2

  1. 1. Part VII
  2. 2. Part VIII
  3. 3. Part IX
  4. 4. Part X
  5. 5. Part XI
  6. 6. Part XII

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