laut.de-Kritik
Neuartige Auslegung von Jazz, Worldbeat und Synthie-Musik.
Review von Philipp KauseGenau so möchte man gerne im Regen aufwachen, mit der psychedelisch-weirden Doors-Orgel in "Awake In The Rain", einem der vielen Höhepunkte auf Kutimans Album "Wachaga". Diese wilde Stilfusionreißt ein unvergleichliches Sammelsurium an Klangspaß und Gebratzel auf. "Wachaga" komprimiert unzählige Zutaten, Rasseln, Glocken, ein Robert Glasper-artig gespieltes Jazz-Schlagzeug, Stimmenschnippsel, ostafrikanische Instrumente, die wie Vibraphon klingen, Trompete, Posaune etcetera zu einem spannenden und stringenten Konzeptwerk, alles fließt, alles groovt.
Rhythmisch schräg und chaotisch-laut führt der israelische Künstler nach einer Reise an den Kilimanjaro durch quirligen Trance-Psychedelic-World-Afrojazz mit urtümlich tribalen Gesängen aus Tansania, in dieser Mischung bis dato ungehört. Wie eine Entführung in den Dschungel.
Nun könnte man dem Tausendsassa, der wie einst Prince das meiste selbst einspielt, exotistische Aneignung vorwerfen. Da fährt ein Filmemacher, denn das ist Kutiman, in eine ihm fremde, touristisch erschlossene Gegend, nimmt haufenweise Material auf, Video und Ton, teils von Kindern, und baut sich eklektisch sein eigenes Amalgam daraus. Dann veröffentlicht er es unter dem Namen Kutiman, einstmals ein Hype-Name im Netz. Dass dagegen die Machame NKweshoo Women Group, die den Großteil der Gesänge beisteuert, mal berühmt werden würde, hinter dem Namen "Ee-Yeiyo Boma" Cultural Museum Tansania Menschen sichtbar würden oder die St Jude Schoole Music Group, deren Kinder er aufnahm, etwas davon hätte - unwahrscheinlich.
Die Aufnahmen stammen von 2014, die Kinder von damals gehen heute nicht mehr zur Schule, und das besagte Museum stellt laut eigenen Angaben die "fast vergessene Varwa-Kultur der Meru" aus Nord-Tansania dar. Die Meru erschlossen das Gebiet unterhalb des vulkanischen Meru-Berges für die Landwirtschaft, entwickelten eigene Tänze und Kostüme mit Songs in ihrer lokalen Sprache Kirwa, die heute kaum noch jemand beherrscht. Die Chaga oder Wachagga leben heute dort, siedelten sich um den 4.900 Meter hohen Kilimanjaro herum an, und es ist recht wahrscheinlich, wenn wir hier Kaffee der Subgattung Arabica trinken, dass diese Menschen ihn angebaut, geerntet und in Arusha auf dem Markt an Großhändler verkauft haben.
Kutimans Absicht war aber offenbar nicht, die Musik seinem eigenen Jazzgeschmack unterzuordnen. Um seine Reiseeindrücke mitzuteilen, stellt er auf YouTube jedem einzelnen Song ein abgefahrenes Video zur Seite, mit interessanten Effekttechniken, räumlichen Verzerrungen und Vervielfältigungen, Weichzeichnungen, farblich grell und in altertümlicher 80er-Jahre-Panasonic-Optik, mit viel Lila, Purpur und Gelb. Dass da zwar auch viel aus den unbeholfenen Anfängen der ethnographischen Dokumentarfilmkunst aufkreuzt, mit dem Gefühl in "Maasai" den christlich missionierten Vorzeigegruppen zu begegnen, die brav in Uniform religiöse Rhythmen trommeln und zugleich als die "edlen Wilden" für die Kamera herhalten müssen, mischt ein paar Fremdschäm-Momente in den Sehgenuss rein. Andererseits schlägt sich auf der Platte akustisch schon eine höchst interessante Auseinandersetzung mit den musikalischen Traditionen nieder.
"Wachaga" klingt super, eröffnet zudem aber auch einen neuen Blick. Afrofunk und -jazz wittert man gemeinhin in Ghana (Zentrum des Highlife), in Togo, dem Bénin (Voodoo-Ensembles, die Disco-Hits von Gnonnas Pedro) und vor allem natürlich, dank Fela Kuti und Tony Allen in Nigeria, ansonsten vielleicht noch bei der legendären Rail Band in Mali. Dass hingegen auch Tansania und Kenia in den 70er-Jahren vereinzelt Funk-Acts hatte und zu ihnen getanzt wurde, wird erst jetzt wieder deutlich, seit Bongoflava 2006/07 boomte und im Zuge der (digitalen) Afrobeats-Welle viel Rap und R'n'B von dort in einem Dance(hall)-affinen Geblubber verschmelzen, für das sich mitunter auch Sony oder Vodafone, dort als Label-Vertrieb aktiv, interessieren.
Weit mehr nach 70ern klingen die optimistischen Sounds auf "Wachaga", etwa wenn im euphorischen "Copasava" ein sitarähnliches Saiteninstrument Euphorie verbreitet. Klar, Funk Music war in Afrika der Sound der Entkolonialisierung, man wusste dort vom Black Power Movement, von James Brown, Muhammad Alis Afrikareisen schon in den 60ern und seinem symbolischen Kampf. Und der Soundtrack dazu konnte eben deshalb so gut funky sein, weil die repetitiv-meditativen Grooves mancher lokaler Musiken gut mit (Jazz-)Funk fusionierbar waren. Tourist Kutiman gibt in "Ngorongoto" den Bläsern die Hauptrolle. Die Posaune (Yair Slutzki vom Israel Jazz Orchestra) trötet herzhaft und behauptet sich entschieden gegen Klaviergeklimper, verträumte Saxophon-Tupfer, den Damenchor, harte, fette Trommelschäge und Tänzer mit Glocken am Körper, welche also durchs Schütteln ständig helle Töne absondern. Dieser Song will auch gar kein Ende nehmen und kostet die wilde Jazz-Improvisation aus.
Dagegen fällt bei den meisten Songs auf: Sie sind kurz oder 'normal' lang, legen das Ausufernde der letzten Kutiman-Platten ab. Nur wenige CDs und zwei Digital-EPs brachte er in den 2010er Jahren heraus, diese wenigen entstanden bereits nach jener Tansania-Reise. Trotzdem hat sich der Multiinstrumentalist die Verwendung des Materials bis zu "Wachaga" aufgespart.
Und da tauchen einige wirkliche Überraschungen auf. "Copasavana" hat eine fernöstliche Ausstrahlung, scheint Elemente der indischen Raga-Musik und Liedgut der vietnamesischen Đàn Bao-Zither zu zitieren. Okay, nun gibt es in Ostafrika viele indischen und chinesischen Händler, was auch zum Verkauf von Kassetten mit solcher asiatischer Musik geführt haben kann - verblüffend wirkt diese Soundfarbe hier trotzdem.
Das Video zu "Lost In The Bush" schaut in etwa so aus, wie die Stimmung auf dem ganzen Album wirkt: verwaschen, Farben wie in einem Kaleidoskop zusammenrührend, drogengeschwängert und halluzinativ; dabei zeigt es Schraffuren von Tanzbewegungen wie von einer Wärmebild-Kameradrohne durchleuchtet. Kutiman gibt an, während der letzten Jahre selbst gerne Spiritual Jazz gehört zu haben. Bei "Rainbow Kilimanjaro" hört man das am deutlichsten heraus. Am afrikanischsten und unberührtesten von seinen eigenen Zusätzen zeigt sich das erdige Trance-Fragment "A Giant Snail".
Sicher, man mag Hooklines und echte Songstrukturen vermissen, aber im Gegenzug lädt mancher Abschnitt wie das süße "Fireflys Before Tomorrow" zum Träumen ein. Empfehlung: Dieses relativ kurze Stück nehmen, sich damit auf eine Wiese legen, die Sonne auf die Haut brennen lassen und abwarten, was passiert. Wer danach nicht verzückt die Mundwinkel nach oben kräuselt, kann sich womöglich den Rest sparen. Wer gerne die Jazzpolizei zu Hilfe ruft, wenn Jazz nicht lupenrein puristisch ist, den wird Kutiman kaum umstimmen.
Ausprobieren sollte jeder Musikfreak diese Sounds aber: Denn sie öffnen den Horizont, mit leidenschaftlich gut gespieltem, geschrienem, gesungenem, getanztem, gestampftem Sound. Die Aufnahmetechnik und Abmischung nehmen dank ihres Raumklangs mit auf eine Reise, in eine kleine Auszeit. Und: Diese lebenslustige Mixtur präsentiert stilistisch etwas noch nie Dagewesenes.
1 Kommentar
Danke für die sehr gute Rezension.