laut.de-Kritik
Herausragende Stimme inmitten schöner Harmonien.
Review von Philipp KauseLila Iké präsentiert Musik aus Jamaika, doch "Treasure Self Love" kann man nicht zwangsläufig als Reggae klassifizieren - da würde man es sich zu einfach machen. Das Debütalbum der 31-Jährigen kreist gleichzeitig in der Umlaufbahn um Philadelphias monumentale soulful Love Song-History wie auch um das Erbe von Sly & Robbie, Roots Radics oder Mighty Diamonds, Jamaikas Blüte des Rub-a-Dub in den sehr späten Siebzigern bis mittleren Achtzigern. Aus den frühen Neunzigern knüpft die Sängerin an modische Symbole sowie an Garnett Silk an. Mit seiner zittrigen Intonation trällerte er ähnlich wie Lila. Zu den spiraligen Basslines des Rub-a-Dub-Subgenres passte diese Technik perfekt. 1994 war Garnett bei einem Haushaltsunfall tödlich verunglückt - zuvor ruhten große Erwartungen auf ihm.
"Sie erinnert mich an Garnett", befand Lilas Mentor Protoje schon, als er mir bei einem Gespräch 2017 seine Entdeckung vorstellte. Damals waren gerade drei Songs releast, "Believe", dann "Flight Plans" mit ein paar Ad-Libs, die Lila als Backgroundsängerin für Protoje einsang, und "Biggest Fan", eine Hymne der Künstlerin an ihre Mama. Damals glaubte die Fan- und Fachwelt noch nicht so recht an die aufkommende Rasta-Innovatorin, deren queeres Outing noch bevorstand (und mittlerweile eher unfreiwillig über Instagram und Twitter geschah), in Jamaikas Entertainment-Bubble nach wie vor ein hohes Risiko. Frankie Paul oder Diana King kostete es die Karriere.
Kings 90er-Kollegin Patra kommt in "Romantic w/ Masicka" zum Zuge, wobei gerade dieses Cover den Tiefpunkt des Albums oder die schwächste Performance darstellt. Denn leider hinken die stumpfen Digital-Congas dem Original weit hinterher. Sie wirken in ihren Schallwellen abgeschnitten und ertönen so dumpf, dass man sofort das Original vorziehen möchte. Masickas postpubertäre Stimmlage verleiht dem Duett keinen Mehrwert. "You like the vibes" mag es zwar im Text lauten. Doch sind im wenig kreativen Aufguss eigentlich keine Vibes zu verspüren. Trotzdem braucht es diese Machart und dieses Feature mit dem Dicke-Autos-Dancehaller wohl, um wenigstens den Hauch einer Chance auf Heimatrelevanz zu ergattern.
Auch sonst repräsentiert Lila nicht nur ihre Insel, sondern auch Verschiedenes, was transnational in Mode ist: Neben der Art und Weise, wie sie sich kleidet, baggy, vintage, very oversize, tritt sie so ikonisch 'heutig' und trendy auf, dass es manchmal dick plakativ wirkt. Kein Fehler - sie hat die Retro-Loops schon vor Jahren gefeiert. Neben einem kleinen Teil der Beats von Mentor Protoje produzieren ihr die noch nicht so geläufigen Beatmakers Cadenza und Nana Cabena den tollen Track "Sweet". Lilas Stimme bettet sich dazu in Samt und Seide, schmachtet vom Paradies und legt einen Track über Sehnsucht und Verlangen mit einem Lovers Rock-Mittelteil hin, der neue Maßstäbe setzt.
Ein süßer Urban-Rhythmus mit Laid Back-Groove zeichnet "Brighter Days", mit Cello-Tupfern produziert von Noah Ela, aus. Als super süßer Wurlitzer-R'n'B macht sich "He Loves Us Both w/ H.E.R." bemerkbar, an der Seite der Kalifornierin H.E.R., die im Duett-Stelldichein perfekt harmoniert. Auch das tolle Duett "Fry Plantain ft. Joey Bada$$" sowie "All Over The World w/ Protoje" bieten schöne Stimmkombinationen. Speziell die der beiden Ladies matcht so sehr wie Vanillecréme mit Karamell-Topping. Hinsichtlich der Intonation sind sich die beiden Sängerinnen ähnlicher, als man annehmen dürfte. In der Botschaft des Liedes heißt es: "Don't be so quick to touch, that's just the thing about love".
Während die Soundsystem-Boxen noch ganz typisch den Videoclip zur Vorab Single "Too Late To Lie" als einzigen Gegenstand füllen, verabschiedet sich der Schlusssong, das stille "Love In A Lovely Way" weitgehend von den Wurzeln der jamaikanischen Musiktradition. Außer wenn man das ästhetische Erscheinungsbild getrennt betrachtet von der Interpolationsquelle, die darin verwendet wird: Unter der Regie des (noch) unbekannten Multiinstrumentalisten Jindasounds zieht die Debütantin eine Referenz auf Garnett Silks "Place In Your Heart", sobald Lila ihre "Love In A Lovely Way" zur Akustikgitarre findet. Mit Rastafarianism im klassischen Sinne hat das Lied zwar sonst nur mehr seine Spiritualität gemeint. Aber schon Diana King machte damals bereits mehr US-Sound, was in den Nineties auch Maxi, Shaggy, Shabba, Ini Kamoze und dem Rasta-Genre in Summe half.
Eine ganz alte Roots-Referenz eröffnet derweil immerhin das Album bei "Scatter": Ein Sprach-Sample aus Peter Toshs "Igziabeher (Let Jah Be Praised)". Während sich insgesamt viele Producer an diesem Album beteiligen, neigen mehrere von ihnen der sanft säuselnden und kuscheligen Seite zu. Somit täuscht der Eindruck für dieses Debüt eigentlich, das ja normalerweise eine Visitenkarte sein müsste. Denn auf der Bühne gibt Lila die Rampensau. Wer ihre ersten Songs noch im Ohr hat und auf ähnliches hoffte, dürfte nun enttäuscht sein. Unter dem Aspekt der Liebe zu sich selbst und des Stellenwerts als Schatztruhe, wie "Treasure Self Love" betitelt ist, gelang dieser erste Longplayer trotzdem sehr gut. Denn er vermittelt genau diese Gefühlslage, das Selbstreflektierte, Zerbrechliche, Kostbare und offenbart die Künstlerin als herausragende Stimme inmitten schöner Harmonien.
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