laut.de-Kritik
Raus aus der Dark-Rock-Komfortzone.
Review von Toni HennigDie Hamburger Dark-Rocker Lord Of The Lost um Tausendsassa Chris Harms frönen einer besonderen Vorliebe für ambitionierte Konzeptalben. Dabei tragen sie musikalisch oftmals richtig dick auf. "Judas" bietet 24 Songs auf zwei CDs auf.
Diesmal widmet sich der Fünfer dem Spannungsfeld zwischen den unterschiedlichen Interpretationen des Charakters des Judas Iscariot und den apokryphen Schriften des Judas-Evangeliums: Schriften, die Gespräche zwischen Jesus Christus und Judas Iscariot festhalten und im Gegensatz zum Neuen Testament einen alternativen Interpretationsansatz der Religionsgeschichte aufzeigen. Dabei fahren die Hanseaten bei der musikalischen Umsetzung mit Kirchenorgel, Streichern, einem Chor und den Vocals von Gergana Dimitrova große Geschütze auf.
Schon in "Priest", das die erste CD namens "Damnation" eröffnet, wird geklotzt statt gekleckert: Wirbelnde Drums und Dimitrovas orientalischer Gesang leiten die Nummer ein. Dem schließt sich ein melodisches Leitmotiv an, das sich durch den weiteren Verlauf der Platte zieht. Danach brechen zu finsteren Glockentönen schwere Metal-Gitarren herein. Industrial-Einflüsse gesellen sich hinzu. Nach gut zwei Minuten öffnet sich die Band schließlich dem erlösenden Refrain.
Auch im weiteren Verlauf bleiben Lord Of The Lost ihrem melodischen Dark-Rock, der einerseits über eine harte Metal-Schlagseite und sinfonische Einsprengsel verfügt, andererseits aber auch ruhige Momente nicht zu kurz kommen lässt, größtenteils treu. Das Sinfonische betont die Band in "For They Know Not What They Do", das in den Strophen von sattem Chor-Einsatz lebt und im Refrain einen feinen Mix aus Melodiösität und Härte bietet. "Your Star Has Led You Astray" wartet danach mit Doom-Metal-Einflüssen auf. "Born With A Broken Heart" zeichnet sich durch treibendes Gitarrenspiel und melancholische Piano-Momente aus.
Das war es dann aber erst mal mit den Metal-Versatzstücken, denn die Formation schielt vermehrt in Richtung 80er-Jahre-Synthie-Sound, wie das von Kirchenorgel und dem dramatischen Gesang Chris Harms' getragene "The 13th" beweist. Das Stück mündet in einem wunderbar souligen Refrain. Und Lord Of The Lost überzeugen eben gerade dann am meisten, wenn sie aus ihrer Komfortzone ausbrechen und neue Einflüsse in die Musik integrieren.
Ansonsten spielt die Band ihren Dark-Rock-Stiefel etwas zu routiniert herunter. Man vernimmt viel Piano-Geklimper und Midtempo, etwas weiblichen Stimm-Einsatz, Cello und Kirchenorgel. Hängen bleibt allerdings nicht viel. Da freut man sich zumindest, wenn Chris Harms in "Death Is Just A Kiss Away" zu etwas Streicher-Einsatz, nachdenklichem Klavier und unheilvollen Pfeifen-Klängen seiner pathetischen Seite freien Lauf lässt. Diese betont er auch zu dramatischer Chor-Begleitung in "The Death Of All Colours". Zuvor hörte man im rein instrumentalen und metallischen "Be Still And Know" gar eine Steel-Drum.
Die 80er-Einflüsse kommen vor allem auf der zweiten CD namens "Salvation" zur Geltung. Hier führt "The Gospel Of Judas", das sich zwischen Hardrock, Metal-Ausbrüchen und melodischem Refrain hin- und herbewegt, etwas auf die falsche Fährte, denn schon das folgende "Viva Vendetta" prägen kühle Synthies und wieder gelegentliche Steel-Drums. In "My Constellation" stehen Lord Of The Lost, wenn die Stimme Chris Harms' zu Kirchenorgel, Industrial-Einsprengseln, melodischem Piano und plastischem Schlagzeug viel Dave Gahan-Flair versprüht, schließlich mit beiden Beinen im Synth-Pop. Am Ende strahlt die Nummer mit beseelter Chorbegleitung beinahe so etwas wie Zuversicht aus.
Aber auch die Tracks dazwischen erweisen sich als stark, was vor allem an Niklas Kahl liegt, der mit einfallsreichem Schlagzeug-Spiel das rhythmische Fundament legt. "Argent" kommt als schnörkelloser Goth-Rocker daher und wartet wieder mal mit orientalischen Einflüssen auf, so dass der Song an The Sisters Of Mercys und Ofra Hazas gemeinsame Version von "Temple Of Love" aus dem Jahre 1992 denken lässt. "The Heartbeat Of The Devil" klingt wie eine Mischung aus Industrial-Rock, der an das frühe Wax Trax!-Labels erinnert, und Tears For Fears. In "And It Was Night" stehen schöne Melodiebögen im Vordergrund.
Die zweite Hälfte der CD zeichnet sich wieder mehr durch härtere Töne aus. "The Ashes Of Flowers" fängt zwar wie eine Art Trauermarsch an, geht aber schnell in eine düstere Metal-Nummer über, die mit Gitarrenausbrüchen, dramatischen Melodiebögen und getragenen Chorpassagen Epik und Opulenz transportiert. Ebenso wie "A War Within", das ein Cello-Solo von Chris Harms auffährt. Etwas zu viel Kitsch kredenzt dann "A World Where We Belong". Dafür findet die Platte mit "Work Of Salvation" ein versöhnliches Ende, stellt der Lord Of The Lost-Frontmann doch einmal mehr zu Streichern, Chorbegleitung und Konzertflügel seine beeindruckenden gesanglichen Qualitäten unter Beweis.
Am Ende bleibt ein abwechslungsreiches Album, das an einigen Stellen aufzeigt, in welche Richtung es für Hamburger weitergehen könnte - wenn sie denn mehr Mut zum Experiment zeigen würden. Den Hang zur großen Geste muss man deshalb ja nicht aus den Augen zu verlieren.
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