laut.de-Kritik
Müde Tigerseele in schnurrendem Katzenkörper.
Review von Giuliano BenassiZu Beginn eine Warnung: Wer sich bei "Essence" die Fortsetzung von "Car Wheels On A Gravel Road" vorgestellt hat, wird beim ersten Anhören erst mal schlucken. Keine Hits wie "Right In Time" oder "Concrete And Barbed Wire," kaum bemerkenswerte Riffs oder Lieder, die sich sofort einprägen.
Zunächst macht sich so etwas wie Enttäuschung breit. Lucinda Williams griffige Mischung aus Rock zwischen Tom Petty und Country weist diesmal eine eindeutige Schlagseite in die zweite Richtung auf. Hat das erste Lied "Lonely Girls" noch so etwas wie einen Riff, wirkt die Gitarre im Anschluss zunehmend im Hintergrund und lässt Williams Stimme freie Bahn. Angehaucht und rauchig in "Steal Your Love," sehnsüchtig und mehr als eine Spur zu schmalzig in "I Envy The Rain" und "Blue." Erst mit "Are You Down" wird es wieder etwas grooviger, eine Tendenz, die mit dem Titeltrack und dem schmissigen "Get Right With God" fortgesetzt wird. Mit "Bus To Baton Rouge" und "Broken Butterflies" tönt es zum Abschluss wieder ruhiger.
Dennoch: hört man sich die CD mehrmals an und steht im Stau auf der Autobahn oder an der Supermarktkasse, ertappt man sich plötzlich beim Summen des einen oder anderen Liedes. Durch die Hintertür ist offensichtlich doch etwas hängen geblieben. Das liegt einerseits am Timbre von Williams Stimme, die, einmal gehört, nicht mehr leicht zu vergessen ist, andererseits an ihren Texten, die auch diesmal sehr persönlich geraten sind. "Lonely Girls" hört sich in seiner Einfachheit wie ein Kinderlied an, bekommt aber durch den letzten Vers eine neue Bedeutung ("I oughta know about lonely girls"). "Are You Down" beschreibt wirkungsvoll das Ende einer Beziehung ("Can't put the rain back in the sky / Once it falls down / Please don't cry"). "Essence" spielt wie auch andere Lieder auf "Car Wheels On A Gravel Road" mit Assoziationen, die den amerikanischen Countrysendern kaum gefallen dürften, in diesem Fall mit Sex und Heroin ("Baby, sweet baby, whisper my name / Shoot your love into my vein"). "Bus To Baton Rouge" ist die Beschreibung einer immer noch präsenten Kindheitserinnerung.
Abschließend lässt sich feststellen, dass Lucinda Williams nach wie vor eine Tigerseele in einem schnurrenden Katzenkörper besitzt. Leider beißt sie auf "Essence" aber nicht richtig zu.
1 Kommentar
Es ist wahr, dass Essence nach Car Wheels... deutlich anders rüber kommt. Die gute Lucinda hat mit dem Grammy im Rücken noch mehr als früher das gemacht was sie wollte. Und offensichtlich war das keine glatte Fortsetzung. Trotzdem ist Essence für mich eine Weiterentwicklung, denn hier gibt sie ihrer Stimme viel mehr Raum und die ist sehr wandelbar: von sehnsüchtig, klagend, verträumt über deprimiert bis lasziv. Aber immer unverkennbar Lucinda Williams. Ja es gibt viele ruhige Songs hier, aber keiner klingt wie der andere und von Country-Schmalz ist das hier weit entfernt. Kein 0815 Nashville sondern aufwendig und geschmackvoll instrumentiert, u.a. mit Jim Keltner am Schlagwerk. Und was die rockige Seite betrifft: Für Get it right With God gab's immerhin den Grammy für den besten Rocksong. Unbedingt auch zu erwähnen Out of Touch, ein Untergründung groovender Abgesang auf eine erkaltende Beziehung, das gestern in Köln mit zu den Höhepunkt eines großartigen Konzerts gehört hat.
Also: Für mich ein wunderbares Album zum entspannen das dennoch drei große Rootsrock-Songs enthält. 4,5/5