laut.de-Kritik

Mit diesem Album eroberte französischer Hip Hop die Welt.

Review von

Die erste Hälfte der Neunziger gilt als 'Golden Age of Hip Hop'. Auch Crossover erreichte damals seinen Peak, und so kam das Rock- und Alternative-Publikum fast zwangsläufig mit Raps, DJing und Samples in Berührung. In diese Zeit fällt auch eines der wichtigsten Alben des französischen Hip Hops: "Prose Combat", der Zweitling des Pariser Rappers MC Solaar, im Senegal geboren, die Wurzeln im Tschad.

Bereits sein Debüt "Qui Sème Le Vent Récolte Le Tempo" (1991) wurde über die Grenzen Frankreichs hinaus wahr genommen. Drei Jahre später setzte "Prose Combat" den französischen Hip Hop mit auf die Weltkarte. Was neben Solaar zu allererst dem DJ und Rap-Produzenten Jimmy Jay sowie Boom Bass (Cassius) zugerechnet werden muss.

Deren Instrumentals sind schon verdammt stilsicher und geschmeidig ausgetüftelt. Eine auch über 20 Jahre später zeitlose Mischung aus anspruchsvollen und doch simpel funktionierenden Arrangements. Mächtige, unpoppige Beats, funky und jazzy montiert mit ausgesuchten Snares, Hi-Hats und Bässen. Mit Fills, Effektbelegung bzw. Lücken oder Dynamik an den neuralgischen Stellen. Die Drumbeats und Percussionloops interagieren hier mit den Samples, Stimmen und Instrumenten.

Diese bestehen oft aus raumgreifenden und weichen Bässen, Streichern und Bläsern. Nicht wenige Sounds und Details laufen im Hintergrund, man nimmt sie nicht unbedingt sofort wahr, konzentriert man sich etwa auf die Raps von Solaar. Viel wird auch mit Hall gearbeitet. Keyboards spielen ebenfalls eine große Rolle: Elektronische Einflüsse gehören neben Jazz und Soul zur Basis dieses Hip Hop-Konstrukts. Auch das ein oder andere Gitarrenlick ist zu hören.

Würde man bei Hip Hop nur an einen MC und DJ mit zwei Turntables denken, muss einem das jazz- und elektro-infizierte "Prose Combat" wie ein ganzes Orchester vorkommen. Weiß man dann noch, dass Philippe Zdar als Tonmeister mit im Boot saß, eine weitere zentrale Figur der Frenchhouse-Szene und die andere Hälfte von Cassius, der später u.a. das zentrale Phoenix-Album "Wolfgang Amadeus Phoenix" mitproduzierte, wundert man sich eh nicht mehr, dass die Scheibe zu den wichtigsten französischen Hip Hop-Alben gehört.

Überhaupt: Diesen ungemein organisch und atmosphärisch klingenden Hip Hop konnte so vermutlich nur der französische Pop hervorbringen. Die künstlerische Leistung wiegt um so schwerer, als es sich bei "Prose Combat" um eine mehr oder weniger spontan komponierte und produzierte Platte handelt, wie Solaar betont.

Die warme Stimme und seine gerne als komplex und lyrisch bezeichneten Raps passen perfekt zum oben beschriebenen Soundbild. Sein Vortrag: schnell, flüssig, intellektuell. MC Solaar ist ein Kind der Banlieues. Von Anfang an beschäftigten sich seine Texte mit den alltäglichen Kämpfen und dem Elend schwarzer Einwanderer in den französischen Großstädten.

Poetisch statt mit Gewalt macht er auf die sozialen Missstände aufmerksam. Für "Prose Combat" scannte er Zeitungen von politisch links bis rechts, um seine Lyrics up to date zu halten. Ausgesucht die Wortwahl, eindringlich, ja ernsthaft der Vortrag - um eine Feel good-Clubparty geht es hier sicher nicht, so entspannt Beat und Reime auch klingen mögen. Solaars Worte fließen ja einem steten und sanften Wasserfall gleich aus den Boxen. Ein Umstand, der auch dem weichen Flow der französischen Sprache geschuldet ist.

Gleich das kurze und sphärische Intro lässt die Lichter des nächtlichen Paris vor dem inneren Auge vorbei ziehen. "Aubade" spielt einerseits kurz den letzten und Titeltrack an und deutet andererseits im Kleinen und ohne Beat den oben skizzierten Gesamtsound an. Danach folgt ein smoother Knaller auf den anderen. Bei einigen Tracks sind auch Gastrapper oder weibliche Soulstimmen zu hören. Einen Track besonders hervorheben muss man nicht. Gleichwohl sind "Obsolete" und "Noveau Western" mit seinem Serge Gainsbourg-Sample Eckpfeiler der Scheibe.

Das Erstaunlichste an "Prose Combat": Zu dieser Platte lässt sich im Club genau so gut die Hüfte bewegen, wie man sie alleine zuhause im Dunkeln genießen kann. Diese Platte ist so melodiös und hat Charakter, einen eigenen! Schön, dass sie sich international über eine Million mal verkauft hat.

Als i-Tüpfelchen könnte man danach noch "Le Bien, Le Mal" auflegen, ein tight flowender Kollabotrack Solaars mit Gang Starrs Guru für die erste Jazzmatazz-Scheibe - so schließt sich der Rap-Kreis rund um den Atlantik.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Aubade
  2. 2. Obsolète
  3. 3. Nouveau Western
  4. 4. A la Claire Fontane
  5. 5. Superstarr
  6. 6. La Concubine De L'Hémoglobine
  7. 7. Dévotion
  8. 8. Temps Mort
  9. 9. L'NMIACCd'HTCK72KPDP
  10. 10. Séquelles
  11. 11. Dieu Ait Son Âme
  12. 12. A Dix De Mes Disciples
  13. 13. La Fin Justifie Les Moyens
  14. 14. Relatiions Humaines
  15. 15. Prose Combat

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6 Kommentare mit 26 Antworten

  • Vor 10 Jahren

    noch so ein meilenstein-kandidat.

  • Vor 7 Jahren

    der haut mich auch um. "Qui Sème Le Vent Récolte Le Tempo" habe ich sogar 1991 gekauft. wurde mir später aber geklaut. mit dieser eleganten form kann ich ja echt tausend mal mehr anfangen als mit den üblichen grobmotorikern und retardierten der deutschen megaseller-szene.

    schon brillant, wenn man künstlerisch und ästhetisch vor 25 jahren als einzelner bereits weiter war als bubu, fler und co heute. frankreich ist halt keine provinz, auch nicht musikalisch.

  • Vor 7 Jahren

    Ich bin als Kind mit französischer Musik gross geworden. Da gabs Francis Cabrel, JJ Goldman, Indochine, Téléphone, Garou, Halliday, Mylène Farmer und eben auch MCSolaar. Solaar blieb bei mir hängen mit "bouge dela", "nouveau Western" und "Caroline" die alle drei auch hier erwähnt wurden. Das Rap in Franckreich durch ihn gross wurde ist mehr als logisch. In seiner Art und mit seiner Technik war er aussergewöhnlich. Dabei rief er nie zu Gewalt auf sondern blieb in Text, Mimik und Gestik stets Moderat und fast schon in sich ruhen. Als junger Mensch fand ich das fazinierend und mochte seine Musik richtig gern. Zu der Zeit war ich mal kurz in ne Caroline verliebt. Ich zitierte sogar Solaar vor ihr mit der Passage "je suis l ace de Trefle qui pique ton coeur, Caroline". Was für ein Wortspiel. Ein ganzes Kartenspiel in einen Satz gepackt. Genutzt hat es mir nichts. Caroline war nie mein. Solaar blieb als Seelentröster.

  • Vor 7 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 7 Jahren

    In Freiburg waren seine Hits damals bedingt durch die Nähe zu Frankreich beliebte Tanzflächenfüller. Ich war nie ein großer Hip Hop Fan, aber die Eleganz seines Flows finde ich schon recht einzigartig. So relaxt hat für mich im englischen Sprachraum lediglich Biggie gerappt.

    Und Sodhahn hat recht: Credibility hatte er in Frankreich natürlich kaum, er war der Poprapper. NTM haben da tatsächlich einen ganz anderen Stand.

  • Vor 7 Jahren

    schon damals, ach wie soll ichs anders sagen war für mich stets die Überzeugung da, dass der Mc Solaar mein Lendentröster war. Was für ein Wortbrei. Ein ganzes Kartenspiel umsonst, zusammen mit Mimik und Gewalt. Es fasziniert mich bis heute, nicht nur in Francksreich sondern auch mit der außergewöhnlichen Passage "Nique ta mere". Als junger Liebesdiener fand ich das faszinierend und dass meine Mette dadaurch kross wurde ist mehr als logisch. Ich zitierte Francis Cabrel, Nicolas Sarkozy und Louis de Funes, doch genutzt hat es mir nichts. Ich blieb sogar Moderat und mochte hängengebliebene Technik richtig gern. Ob ichs mal bei Caroline versuchen soll?