laut.de-Kritik

Ist nicht der innere Frieden der erste Schritt zur Hoffnung?

Review von

An der Vorgabe, ein Album in klassischer Vinyl-Spielzeit von 45 Minuten in Anlehnung an die Achtziger-Großtaten zu schreiben, sind Marillion gescheitert. Verglichen mit "Brave", "Marbles" oder "F E A R" gerät "An Hour Before It's Dark" vergleichsweise schlank.

Die Stunde vor Anbruch der Dunkelheit bezieht sich auf mehrere Ebenen. Der Fan sieht darin die Stunde Musikgenuss, bevor er wieder in den tristen Alltag zurückkehrt. Steve Hogarth, seit 1989 Fronter des Neo Prog-Kollektivs, verbindet damit eine Kindheits-Erinnerung: die Mahnung seiner Mutter, bloß vor der Abenddämmerung das Spiel zu beenden.

Zwar kommt der Albumtitel nicht als Songtitel vor. Als Bestandteil der Lyrics taucht er hingegen auf, einmal im Opener "Be Hard On Yourself" und im Closer "Care". Konzeptuell behandelt Hogarth in seinen Texten die apokalyptischen Ausmaße der Klimakrise sowie der Pandemie.

Der Opener knüpft mit seiner aus vier Worten bestehenden Hook an das Mantra des Vorgängers an. Während "Fuck Everyone And Run" vereinzelt als moralinsaueres Statement aufgefasst wurde, geht es Anno 2022 um Verhaltensanpassung im Zeichen der Krise.

"Only A Kiss" beschreibt die Sehnsucht nach Zuneigung und Zärtlichkeit in Zeiten der Kontakteinschränkung, wogegen die musikalisch und thematisch verbundene Nummer "Murder Machine" die Ängste beschreibt, seine Liebsten zu infizieren. Diese Ambivalenz bestimmt den musikalischen Kompass des Albums und zwar in Abgrenzung zum pessimistischen Grundtenor der Platte. Die härteste Nummer der Platte, "Reprogram The Gene", beschreibt das Wohl und Wehe der Wissenschaft. Hier sind Musik und Text in Agit-Rock vereint.

Das Quintett präsentiert erbauliche Stücke, gipfelnd im abschließenden Longtrack "Care", einer epischen Erzählung über Abschied und Tod. Die dreiteilige Anlage ergibt thematisch wie mit Blick auf die Songwriting-Struktur Sinn. Im groove-orientierten Part eins zieht Hogarth Inspiration aus der Krebs-Diagnose eines Freundes und dessen Genesung.

Im zweiten Teil kippt die Stimmung ins Melancholische und der 65-Jährige erzählt von den Helden der Pandemie. Hier nimmt er Bezug auf ein Foto von einer erschöpften Intensivpflegerin, das wiederum ein Künstler an einer Wand in Manchester als Bild verewigte. Wenn sich schließlich die Musik und die Worte "The angels in this world and not in the walls of churches" vereinen und in einer cineastischen wie sakralen Endsequenz die Dynamik ausreizen, erreichen Marillion den Gipfel des künstlerischen Könnens.

Die sechs Jahre zum letzten Studioalbum erklären sich einerseits durch die akribische Arbeit mit Produzent Michael Hunter, andererseits die Ansprüche an sich selbst und den Wert, den die fünf Musiker Kollaborationen und Solo-Alben beimessen.

Bassist Pete Trevawas war etwa mit Transatlantic beschäftigt ("The Absolute Universe"), während Keyboarder Mark Kelly mit "Marathon" sein Soloalum präsentierte. Steve Hogarth kollaborierte mit Isildur's Bane. Diese Bewegungen raus aus der Komfortzone helfen, frisch zu bleiben und wirken sich auch auf den Vortrag des Sängers aus, der hier wieder besonders facettenreich mit seinem Timbre umgeht.

Der gerne als Wohlfühlprog abgetane Budenzauber von Marillion spendet Trost und macht die mentalen und körperlichen Wunden von Vergangenheit und Gegenwart erträglicher. Ist nicht der innere Frieden der erste Schritt zur Hoffnung? Dem melodisch mäandernden Moment fügt der gerne schlicht als "h" betitelte Sänger ein erzählerisches Element hinzu. "An Hour Before It's Dark" hält die Wage zwischen Song und Epos und gibt trotz oder gerade wegen der mahnenden Fingerzeige Zeugnis einer ambitionierten Band ab.

Trackliste

  1. 1. Be Hard On Yourself
  2. 2. Reprogram The Gene
  3. 3. Only A Kiss
  4. 4. Murder Machine
  5. 5. The Crow And The Nightingale
  6. 6. Sierra Leone
  7. 7. Care

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Marillion

Als das Buch "The Silmarillion" 1977 auf den Markt kommt, sind bereits 60 Jahre vergangen, seitdem Autor J.R.R. Tolkien mit seinem Werk begann. Das Quartett …

5 Kommentare mit 8 Antworten