laut.de-Kritik
Die deutsche Schlagersängerin fand ihren Peak in französischen Chansons.
Review von Sven KabelitzGenres geben Sicherheit. Wie in ein kuscheliges Bett kann man sich in sie fallen lassen. Dort haben wir den Rock, dort den Hip Hop, dort den Schlager. Schön, wenn man der Etikettierung trauen kann. Eine Win-win-Situation für Konsumenten und Markt. Was nicht passt, wird eben passend gemacht. Notfalls erfindet man leere Worthülsen wie Grunge und verbindet darunter Künstler*innen, die eigentlich nur bei der Wahl ihres Wohnorts und ihrer Shirts Gemeinsamkeiten aufweisen.
Dabei gibt es genug Acts, die viel mehr zu bieten haben und die jene Grenzen – ob sie sie nun bewusst oder unbewusst wählten – nur einschränken. Es liegt etwas Spannendes darin, bei einigen Schlagerstars der 1960er und 1970er eine Schicht nach der anderen abzulösen und zu sehen, was unter der Fassade steckt. Dort finden sich dann Dinge wie Nana Mouskouris "The Girl From Greece", James Lasts "James Last In Los Angeles", die frühen Aufnahmen von Mireille Mathieu ("The Fabulous New French Singing Star"), Vicky Leandros' eindringliche Chanson-Interpretationen wie "Ne Me Quitte Pas" ("Ich Bin") oder ein heimlich daheim (bitte auf Deutsch aussprechen) jazzender Peter Alexander.
Bei Mary Roos musste man hingegen nie lange suchen, bei ihr lag von Beginn an alles auf dem Tisch. Gleich ihr erster Hit "Arizona Man" ging andere Wege. Der von Michael Holm produzierte Song wurde vor allem dank der Hilfe von Giorgio Moroder zum ersten deutschsprachigen Hit, in dem ein Synthesizer zu hören war. Als wäre dies nicht genug, teilt sich der Track in zwei ganz unterschiedliche Stücke: mal ein dufter Tanzflurkracher zum Schwofen, mal ausufendere Ballade. Ziemlich progressiv für ein Umfeld, das eher an "Michaela" oder "Fiesta Mexicana" gewöhnt war.
Götz Alsmanns Forderung, "Mary Roos hätte schon längst der Orden 'deutsche Dionne Warwick' umgehängt werden müssen", kommt nicht von irgendwoher. Natürlich beherrschte sie auch den deutschen Schlager mit ihrer warmen Stimme perfekt, doch zeigte sie über die ganze Zeit auch ihr Interesse für Bossa Nova, Folk, Soul, Pop und Chansons. Als einziger deutscher Act schaffte sie es in die Muppet Show, sang dort mit Rowlf und Electric Mayhem Bill Withers "Lean On Me". 1972 fuhr sie mit "Nur Die Liebe Läßt Uns Leben" und 1984 mit "Aufrecht Geh'n" zum Grand Prix d'Eurovision aka Eurovision Song Contest. Ihr größter Hit wird für uns Kinder der 1970er und 1980er jedoch für immer der Titelsong der "Pinocchio"-Serie bleiben, für den sie damals gerade einmal 500 D-Mark erhielt.
Bei all dem gibt es mit "Mary Roos" und "Direction l'Aventure" zwei Alben, die ganz besonders herausstechen, die aber dennoch mit der Zeit tief in der Versenkung verschwanden. Außerhalb von Deutschland findet Mary Roos hier in französischen Chansons ihren künstlerischen Peak, geht den umgekehrten Weg zu Mireille Mathieu oder France Gall. Von 1969 bis 1977 mit Pierre Scardin verheiratet, zog sie für eine Weile nach Paris, bekam dort die Hauptrolle in Michel Fugains "Un Enfant Dans La Ville". Dabei beherrschte sie die Sprache nicht, sondern lernte ihre Texte phonetisch. Dies aber so gut, dass das Publikum ihr die Deutsche fast nicht abnahm. Umjubelte Auftritte im ausverkauften Pariser Olympia kamen hinzu. Ihr erstes französisches Album "Mary Roos" war nur die logische Folge dieser Zeit.
Gleich der Opener "Amour Toujours" zählt bereits in der deutschen Version "Morgens Um Fünf" zu ihren besten Titeln. Von zaghaftem Klavier eingeleitet, verströmt der Song von Beginn an Easy Listening-Flair, riecht nach beginnendem Sommertag und einem frischem Kaffee zur Morgenzeitung am offenem Fenster in einer viel zu keinen Dachwohnung in Paris. Natürlich mit flüchtig im Wind wehender Gardine. Damit leitet das Lied gleich die Leichtigkeit ein, die so viele der folgenden wie etwa "N'Oublie Pas Lorsque Tu Chantes" durchzieht.
Dem gegenüber steht "Dans Le Jardin" in all seiner Tragik, die die gerade so beflügelte Roos voller Überzeugung und Trauer in der eben noch so leichten Stimme vermittelt und die man in dieser Art wohl nur in französischen Chansons findet. In diesem Moment dreht sie auf, lässt wirkungsvoll ihre Stimme zittern, für Sekundenbruchteile brechen, nur um kraftvoll zurückzukehren. Das ebenso einnehmende "Entre Nuit Et Jour" startet am selben Ort, nimmt aber im Refrain eine andere, energischere Abzweigung.
Zwischen diese beiden Polen finden sich nette Lieder wie "L'Autoroute" und "Mélodie En Sol" mit leichtem Burt Bacharach-Touch ein. Dabei soll "nett" hier im ursprünglichen Sinne als "freundlich und liebenswert, im Wesen angenehm", nicht über seine Familienverhältnisse definiert werden. Gäbe es mehr nette Menschen auf der Welt, wir hätten viel weniger Probleme.
Nur das abschließende "Nous", die französische Version von Roos' Grand Prix d'Eurovision "Nur Die Liebe Lässt Uns Lieben", passt nicht so ganz in das Stimmungsbild des Albums. Mit dem typischen Vibe des Events ausgestattet, wirkt es auf diesem auf die kleinsten Zwischentöne und Details achtenden Longplayer etwas zu aufdringlich.
Auf das bezaubernde "Mary Roos" folgten noch "Direction l'Aventure" (1973), die Single "Quand On Fait La Musique" (1975) und einzelne TV-Auftritte, doch spätestens die Trennung von Pierre Scardin beendete das Abenteuer französischsprachige Musik. Auf späteren Alben fand Roos jedoch für einzelne Songs immer wieder zu ihrer Liebe zur Frankophonie zurück.
Die Dramen, die danach auf sie warteten, würden alleine schon eine kleine Netflix-Serie füllen (Stichwort: Werner Böhm), führten aber zu einem Happy End mit einer heute ebenso selbstbewussten wie selbstironischen, in sich ruhenden Frau. Zuletzt konnte man sie an der Seite von Wolfgang Trepper in den musikalisch-kabarettistischen Programmen "Nutten, Koks und frische Erdbeeren" und "Mehr Nutten, mehr Koks - scheiß auf die Erdbeeren" sehen.
Auf CD haben es weder "Mary Roos" noch "Direction l'Aventure" jemals geschafft, sie sind daher nur auf LP und bei keinem Musik-Streaming-Anbieter zu finden. 2009 erschien jedoch mit der CD "Amour Toujours - The French Song Collection" ein Sampler, der viele Stücke der damaligen Zeit zusammenfasst.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar
Ein Meilenstein für Mary Roos? Ich bin dabei ... Und empfehle an dieser Stelle eindringlich "Amour Toujours - The French Song Collection 1972-1975"!!!
Hier macht nicht nur das absolut überragende "N'oublie pas lorsque tu chantes" Riesenspass. Auch "Nous" (aka "Nur die Liebe lässt uns leben") oder "Amour toujours" gehören zu den insgesammt 21 Highlights.