laut.de-Kritik
Ein abwechslungsreiches und durchdachtes Prog Metal-Werk.
Review von Yan VogelDer Vorgänger "Rubidium" steckte noch tief im Progressiv-Metal fest. Das Genre lässt sich auch auf dem zweiten Album "Naturalis" eindeutig raushören. Abwechslungsreichtum und stilistische Vielfalt sind bei "Naturalis" allerdings deutlich größer als beim Debüt. Der Schubladendenker müsste schon ein Konstrukt wie Prog-Fusion-Alternative-Metal erfinden, um Sound und Songs nahe zu kommen.
Zwischenzeitliche gesundheitliche Probleme hat Sänger und Gitarrenwunder Luke Machin einfach weggejoggt. Als Resultat wächst die Sicherheit bei der stimmlichen Darbietung. An sein Timbre muss sich der Hörer hingegen erst gewöhnen. Auch zwischenzeitliche Besetzungswechsel warfen die Band nicht aus der Bahn. Die zwei Neuen im Bunde, Sängerin und Keyboarderin Marie-Eve De Gaultier und Schlagzeuger James Stewart tragen zum dynamischen Sound der Scheibe bei.
De Gaultiers Vocals beleben die Songs. Häufig erinnern ihr Lead-Gesang oder die Duette mit Machin in der harmonisch wunderbar austarierten Form an Anathema oder die Anneke von Giersbergen-Kollaborationen von Devin Townsend und Arjen Lucassen (The Gentle Storm, Ayreon). Mit den Keyboard-Sounds sowie dem direkten Gesamtklang taucht der Hörer zwischenzeitlich tief in die Achtziger ein, was den Vergleich zu Hakens Neuausrichtung auf "Affinity" heraufbeschwört. Die Achtziger, man liebt oder man hasst sie. Ignorieren fällt hingegen schwer.
Luke Machin tritt als Mastermind in Erscheinung, der Songwriting, Produktion, Konzept und Artwork alleine zu verantworten hat. Auch die Gitarrenparts spielte er komplett ein, obwohl mit Elliott Fuller noch ein zweiter Gitarrist mit an Bord ist. Den benötigt der Brite nur für die Live-Shows. Als Student von Guthrie Govan (Steven Wilson, The Aristocrats) beherrscht er sämtliche relevanten Stile und besitzt ein gutes Händchen für ausgefallene Jazz-Harmonien und (nicht) dazu passende Skalen. Zudem schwingt der Linkshänder die Axt bei den Canterbury-Proggern von The Tangent, was der stilistischen Vielfalt und der Prise Verschrobenheit, die guten zeitgenössischen Prog ausmacht, sicherlich nicht abträglich war.
Ganz der Teamplayer, kitzelt er die Stärken aus seinen Bandmitgliedern hervor. Hier sei
exemplarisch die Rhythmusgruppe hervorzuheben, die groovebetont, technisch aberwitzig und zugleich musikalisch ergeben agiert.
Textlich geht es um Mensch und Natur und die Schönheit und Schrecken, die deren Beziehung definieren. Von diesem Verhältnis ausgehend, streckt Machin seine Fühler in sämtliche Richtungen aus, die dieses Thema zu bieten hat. Der Mensch als Teil der Natur, und wie er sich trotz vieler Emanzipationsversuche immer in ihr wiederfindet. Weiterhin behandelt die Band Umweltsünden zu Gunsten profitorientierten Denkens, den Tsunami von 2011 sowie Soldaten, die bei der Überquerung der Dolomiten im ersten Weltkrieg den Wetterkapriolen trotzten.
Musikalisch setzt die Band die Steilvorlagen entsprechend um. Der Hörer fühlt in "Megacyma" die tosenden Wogen über sich hereinbrechen. Hier spielt das Quintett Prog Metal der neuesten Generation mit Djent-Riffing und wilden Slap-Passagen. "Resistance" springt wild zwischen den einzelnen Parts hin und her und kleidet die Symbiose und den Kampf zwischen Mensch und Natur in ein symphonisches Gewand. Diese beiden Longtracks bilden die Klammer.
Dazwischen sind vier kürzere und deutlich zugänglichere Stücke angesiedelt. Das balladesk-elegische "Make Believe" besticht mit tollen Lead-Vocals von Marie-Eve. Das Prog-Fusion-Stück "A New Reality" kündet von einer besseren Zukunft. Beim Indie-inspirierten "Hidden In Plain Sights" sowie dem schmissigen, einen Luftkampf im zweiten Weltkrieg thematisierenden "Night And Day" sind die Wechselwirkung von Musik und Lyrics vielleicht nicht ideal geraten. Wie die Tragik des Weltkriegs mit flotten, jazzig-angehauchten und harmonisch zugänglichen Parts dargestellt werden soll, bleibt zumindest mir ein Rätsel. Auch sind einige Harmonien zu redundant besetzt und erschöpfen sich im Wechselspiel von zwei Akkorden. Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass Machin die Thematik des Albums bewusst nicht allzu düster gestalten wollte, sondern Wert darauf gelegt hat, einen Hoffnungsschimmer durchscheinen zu lassen.
Angesichts des durchdachten, extrem abwechslungsreichen und trotzdem kurzweiligen Vergnügens, das den Hörer auf diesem Prog Metal-Werk der neuesten Generation erwartet, bedeuten diese Kritikpunkte allerdings ein Jammern auf ziemlich hohem Niveau.
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