laut.de-Kritik
Gediegene Klänge, die zum Nachdenken anregen.
Review von Toni HennigDer britische Komponist Max Richter hat sich schon immer mit den Fragen unserer Zeit auseinandergesetzt und damit ein Millionenpublikum berührt. Auch "Exiles", das nun auf den Markt kommt, regt wieder einmal zum Nachdenken an.
Das Ende 2019 mit der Baltic Sea Philharmonic unter der Leitung von Kristjan Järvi im Rundfunkhaus in Tallinn eingespielte Werk besteht aus der gleichnamigen 33-minütigen Komposition, vier Bearbeitungen bekannter Max Richter-Stücke für großes Orchester sowie einer unveröffentlichten Nummer, die es nicht auf "Three Worlds: Music From Woolf Works" schaffte, das Stücke des von Schriftstellerin Virginia Woolf inspirierten Ballets "Woolf Works" zusammenfasst.
Inhaltlich geht es um gesellschaftspolitisch relevante Themen. Das Titelstück komponierte der Brite als Reaktion auf die humanitäre Katastrophe in Syrien, die ab Herbst 2015 zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. "On The Nature Of Daylight", "Infra 5" und "The Haunted Ocean", die um frühere Kriege in Nahost sowie die Londoner Terroranschläge im Juli 2005 kreisen, versteht er als "Aktivistenmusik".
Die schon bekannten Stücke Richters leben in ihrer Urfassung größtenteils vom Zusammenspiel aus warm wogenden Harmonien und klagenden Streichertönen, die sich immer wieder in den Vordergrund schieben, so dass Glück und Leid nah beieinander liegen. Das Baltic Sea Philharmonic überführt sie in ein gediegenes szenisches Gewand, das, wenn man von der Bearbeitung der "Songs From Before"-Nummer "Sunlight" absieht, eine gewisse Einförmigkeit und Gemächlichkeit ausstrahlt und so nur wenig Raum für wirklich ergreifende Momente lässt.
Dadurch lässt es sich zwar einerseits gut seinen Gedanken nachhängen, aber andererseits haftet der Musik ein etwas fader Beigeschmack von klassischer Dienstleistung an, das dürfte nicht bei allen Verehrern der Originale auf Gegenliebe stoßen. Da besitzt "Flowers Of Herself", für das sich Richter vom Thema Bewegung inspirieren ließ, deutlich mehr Leben, bekommt man doch äußerst facettenreiche und komplexe Minimal Music geboten, die mit abenteuerlichen Taktwechseln und bildhaften Streichermomenten aufwartet. Die Nummer befindet sich jedenfalls tatsächlich ständig in Bewegung.
Bewegung liegt auch dem Titelstück als zentraler Gedanke zugrunde. Die Intention Richters war es, den Gedanken für eine gleichnamige Ballettmusik für das Nederlands Dans Theater und dessen Hauschoreografen Sol León und Paul Lightfoot in ein melodisches Motiv zu überführen, "das sich andauernd wiederholt, während es durch diverse Landschaften zieht". Jedoch verlangt das Ergebnis eine Menge Geduld ab. Bis auf ein gleichbleibend minimalistisches Klimpern, umrahmt von Streichern, die sich immer wieder zaghaft nach vorne schieben, und tiefen, melancholischen Klängen darunter, passiert nämlich lange Zeit nicht viel.
Erst im letzten Drittel zieht die Dramatik mit schneidenden Streichertönen nach und nach an, um in einem festlichen, überwältigenden Finale zu münden. Dem schließt sich eine leise Coda an, die Richter als "Warnung" verstanden wissen will. Der Flüchtende hat zwar die Flucht aus der krisengeschüttelten Heimat in ein neues Leben überstanden, ist aber längst noch nicht wirklich angekommen. Glück und Leid liegen hier wieder nah beieinander.
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