laut.de-Kritik
Die kompositorische Schönheit steht der Message hintendran.
Review von Toni HennigAlle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. So lautet es im ersten Artikel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948. Motiviert von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges konzipierte das eine Gruppe von Denkern verschiedener Nationen unter der Leitung von Eleanor Roosevelt. Deren Stimme vernimmt man gleich zu Beginn von "Voices", Max Richters erstem Studioalbum seit drei Jahren.
Wichtiger ist jedoch die anschließende Rezitation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die amerikanische Schauspielerin Kiki Layne, die so klar klingt, dass sie sich nicht überhören lässt. Dem schließen sich im weiteren Verlauf unzählige Stimmen in den unterschiedlichsten Sprachen an, die der Brite mit dem Klang des Orchesters und weiblichen Chören verwebt. Richter hatte per Crowdsourcing Menschen aus aller Welt eingeladen, Zeilen aus der Erklärung zu lesen.
Nur hätte man als Musikkritiker ein Problem, wenn sich aufgrund der wichtigen Message jede Kritik an dem Werk im Vornherein verbieten würde, denn dann könnte man die Rezension hiermit abschließen. Kommen wir aber zum Anfang zurück.
"All Human Beings" bildet abseits der Textlastigkeit durch die wunderschönen sakralen Chöre, die unter Hinzunahme emotionaler Streicher nach und nach in immer himmlischere Sphären vordringen, einen berührenden Einstieg, der in düsteren Zeiten von Zuversicht spricht. Dagegen trägt "Origins" den Schmerz aller Welt auf den Schultern, wenn man den tiefen Piano-Akkorden und den düsteren Streichern lauscht.
Dieser Anflug von Tristesse bleibt allerdings eine ziemliche Ausnahme auf dieser Platte, die mehr als eine Dekade Entstehungszeit in Anspruch nahm. Zwar eröffne sich mit ihr laut dem 54-jährigen ein "Ort zum Denken und Reflektieren", aber sie solle auch eine "zuversichtliche Vision einer besseren und gerechteren Welt" aufzeigen. Zur Komposition, die schon im Februar im Londoner Barbican ihre Uraufführung erlebte, gibt es zudem noch einen von Yulia Mahr gedrehten Film.
Die funktioniert wahrscheinlich auch besser mit belebten Bildern als auf Albumlänge. Jedenfalls kommt ab "Journey Piece" zunehmend der Vorschlaghammer ins Spiel, wenn der Brite die verschiedenen Lesungen mit Vogelgezwitscher unterlegt, das später erneut in "Cartography" auftaucht. Dieser Anflug von klischeebeladener Allerweltsesoterik wäre jedoch noch zu verkraften gewesen, wenn die Stimme von Kiki Layne nicht in so gut wie jedem Stück auftauchen würde. Dadurch steht die kompositorische Schönheit viel zu oft der Message hintendran.
Es gibt aber auch Positiveres zu berichten. "Chorale" lebt in der ersten Hälfte zwar auch überwiegend von den Stimmen, aber wenn ab der fünften Minute wogende Streicher und Chöre kontinuierlich die Spannung steigern, nur um in einem cineastischen Höhepunkt zu münden, der nicht mehr von dieser Welt klingt, dann fühlt man sich überwältigt. Mehr Schönheit geht im Grunde nicht mehr.
Weitaus weniger losgelöst von der Erde erweist sich dagegen "Little Requiems", das sich nicht weniger schön anhört, wenn sich Streicher und Chöre zu einem ebenso bedachtsamen wie betörenden Zusammenspiel treffen. Gut, dass die Stimmen die instrumentalen Passagen dezent umrahmen.
Dass es auch rein instrumental geht, beweist das abschließende "Mercy", das sich ausgehend von stillen Klavierklängen, die so zärtlich wie Beethovens "Mondscheinsonate" daherkommen, zu einem einnehmenden Gebet für mehr Gerechtigkeit und Solidarität entwickelt, durchzogen von flehenden, aber ebenso anmutigen Streichern. Wenn die letzten filigranen Töne enden, dann hat man den Glauben an die göttliche Gnade noch nicht verloren, die zur Veränderung befähigt.
Aber auch weniger gläubigen Menschen vermittelt die Platte, dass im Homo sapiens die Fähigkeit steckt, die Welt trotz Corona, Polizeigewalt und globaler Krisen zu einem friedlicheren und lebenswerteren Ort zu machen.
Jedoch hätte es dem Album ziemlich gut getan, wenn Max Richter die Stimmen deutlich sorgsamer in die Komposition eingebettet hätte. Erst dann, wenn er der Musik genug Raum zur Entfaltung gibt, läuft das Werk zu wahrer Größe auf. Das geschieht leider zu selten. Glücklicherweise gibt es auf der zweiten CD die Stücke ganz ohne Stimmen als Voiceless Mix, frei von jeglichem Vogelgezwitscher.
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