laut.de-Kritik

Tolle Performances mit Tropensturm und polterndem Obst.

Review von

Die Insel Jamaika beheimatet nicht nur den Reggae, sondern auch ein paar richtig virtuose Jazz-Füchse mit wieselflinken Fingern. Monty Alexander ist so ein Original, heute graue Eminenz, 78 Jahre, exzellenter Pianist. Hin und wieder greift er zur Melodica. 2016, 2014, 1995 und 1993 gastierte er beim strahlkräftigen Montreux Jazz Festival. Die neue und lose Serie "The Montreux Years" thematisierte bereits Nina Simone, Etta James (mitreißend!), Marianne Faithfull, Muddy Waters und Chick Corea. Was diese Aufnahmen alle eint, ist ihre perfekt ausgesteuerte Tondynamik. Und was die Konzeption dieser Best Ofs verbindet: Man hört ihnen das akribische Durchwühlen der Archive dieses Festivals (und der Schränke von Radio Télévision Suisse) an, um nicht einen Mitschnitt in Händen zu halten, sondern einen Querschnitt durch vier oder fünf Auftritte aus verschiedenen Jahrgängen.

Bei Monty Alexander variieren damit sogar die Band-Besetzungen gewaltig. Mal reiste er als Trio an, mal als "Jamaican Project". Richtig heraus ragen die lebhaften Performances jüngeren Datums (2014/16) mit seinem Harlem Kingston Express. Kingston, Hauptstadt Jamaikas, trifft auf Harlem, Stadtteil der Bronx, zwischen Hudson River und Manhattan, dort wo karibische Auswanderer vor 50 Jahren für die Geburt des Hip Hop sorgten. Montys Gruppe Harlem Kingston Express hat zwar mit Genres wenig am Hut, aber vermittelt ein Gefühl für lässig empfundenen Offbeat, lässt Raum für Percussion-Einlagen, Human Beatboxing und Storytelling ohne Worte.

In "Hurricane Come And Gone (2016)" greift ein Saxophon das Aufwühlende eines Wirbelsturms auf, während Montys Klavierspiel erst die diffuse Ruhe-Unruhe-Mischung vor dem Sturm und dann das brodelnde Heraufziehen düsterster Wolken bildlich vertont. In solchen Auftritten steckt Leben. Sie sind kein liebliches Einlullen für Leute, die zum Jazz gehen wie sie über den Golfplatz stolpern. Monty Alexander macht echten und progressiven Jazz bis an die Grenzen harmonischer Akkorde und in dissonant übersteuerte Momente, wie dieser Track belegt. Es dauert, bis ein Hurrikan weiterzieht, obgleich er es mit 120 km/h oft relativ eilig hat, Monty Alexander durchlebt den Wirbelsturm hier zehn Minuten lang. Die relativ lockere Gestaltungsfreiheit entwickelte sich wohl daraus, dass Monty keine Noten liest, wie er in einem Gespräch mit Planet Interview 2014 bezeugte: "Die Noten hinderten mich ja daran, besser zu werden. Ein ständiger Blick auf die Noten hätte meinen Ausdruck behindert, die Seele der Musik wäre nicht zur Geltung gekommen. Für mich wurde das Hören viel wichtiger. Ich fühlte mich nicht wohl mit dem Notenlesen, auch wenn ein Profi das eigentlich können muss."

Manches wie der "Night Mist Blues (2014)" mag vielleicht eher für ein bestuhltes Konzert an einem tropisch-heißen Hochsommerabend geeignet sein, wo es auch entstand, als für eine Platte zuhause im Winter. Und etliche Improvisationen entspinnen sich arg geruhsam und zielen womöglich schlicht auf ein Publikum in Monty Alexanders Altersgruppe.

Einer der Höhepunkte tritt in aufregend spielender Trio-Besetzung 1993 ein. Herr Alexander wandelt den Mento-Folk-Klassiker "Linstead Market" aus seiner Heimat ab. Dort ging der Mento dem Ska voraus, Jimmy Cliffs erstes Lied war ein Mento-Calypso-Mischmasch ("Hurricane Hattie"), in der berühmten langen Marley-Filmdoku kommt zu Anfang ein Mento vor (während man Jugendfotos von Bob zwischen Mangobäumen sieht). Den "Linstead Market" gibt es als Marktplatz in Kingston. Der Kontrabass in Montys Montreux-Version klingt, als poltere eine Menge Obst vom Marktstand herunter und reiße eine Lawine an Mangos und Kokosnüssen mit sich. Das Traditional erinnert in Melodie und Rhythmus an Belafontes "Day-Oh Banana Boat".

Monty spielt gerne an Melodien herum, die das Publikum vielleicht sowieso im Ohr hat und die er mal ganz anders präsentiert. Wie er die beiden abgegriffensten Marley-Evergreens "No Woman No Cry / Get Up Stand Up - Medley (2014)" mit einem flirrenden und extrem guten Übergang zu einem Jazzrock-Reggae zusammen baut und innehaltende Phasen mit vorwärts galoppierenden abwechselt, unterhält bestens. Auch das zwölfminütige "A Nod To Bob (1995) referiert auf Marley, ein paar Melodie-Schnippsel von ihm, "A Nod", ein "Zuwinken" oder "Zunicken" zu ihm oder eine Verbeugung. Da flutscht die Zeit wie im Flug dahin, Monty Alexanders Jamaican Project ist großartig aufeinander eingespielt, es swingt und flowt.

In besagtem Interview geht der Pianist auf ein Statement Robert Glaspers ein, Jazz solle Spaß machen statt Geschichtsstunde zu sein: "Dem stimme ich zu 100 Prozent zu. Ich (...) sehe, dass viele junge Leute dieses Akademische beibehalten. Vielleicht spielen sie großartig, aber sie denken das Ganze eher wie ein Recital, wie in der klassischen Musik. (...) Und da ist Glaspers Haltung anders: Er will Spaß dabei haben, (...) macht das auch, um dem Publikum zu dienen. Und wir sind Diener des Publikums." Als solcher liefert Monty Alexander in den hier zusammen gefassten Montreux-Momenten 85 Minuten hervorragenden Service.

Trackliste

  1. 1. The Serpent (1995)
  2. 2. Work Song (2016)
  3. 3. Hurricane Come And Gone (2016)
  4. 4. Night Mist Blues (2014)
  5. 5. Linstead Market (1993)
  6. 6. Crying (1995)
  7. 7. No Woman No Cry / Get Up Stand Up - Medley (2014)
  8. 8. Renewal (1993)
  9. 9. The Pawnbroker (1993) - Vinyl+Digital only!
  10. 10. A Nod To Bob (1995)

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