laut.de-Kritik
Ein Album, für das die Welt 1996 noch nicht bereit war.
Review von Toni HennigLaut AllMusic haben die "mitreißenden 70er-Jahre-Updates" von Étienne De Crécy und Philippe Cerboneschi alias Philippe Zdar, "die auf den Labels Cassius und Source veröffentlicht wurden, maßgeblich dazu beigetragen, die Pariser Underground-Dance-Music-Szene wiederzubeleben und ihr Aufmerksamkeit zu verschaffen."
Im Juli 1996 erschien ihr erstes und einziges gemeinsames Album "Pansoul" unter dem Namen Motorbass auf dem Motorbass-Label sowie auf Different in UK. Darauf verbindeten die beiden tanzbare House-Klänge mit Elementen aus Jazz, Soul, Funk und Hip Hop und gaben somit der French Touch- oder Filter House-Welle den entscheidenden Schub. Nur ein halbes Jahr später veröffentlichten die Kollegen von Daft Punk mit "Homework" ihr Debüt und feierten die großen Erfolge. "Pansoul" geriet dagegen lange Zeit in Vergessenheit. 2021 erfuhr die Platte auf Ed Banger Records ihre Wiederveröffentlichung auf Vinyl und als Download, nachdem es schon 2003 einen ersten Re-Release gab.
Beide Musiker stammen ursprünglich gar nicht aus Paris. Étienne De Crécy kam in Lyon auf die Welt und und landete über den Umweg Dijon im Pariser Vorort Versailles, wo er im Alter von 15 Jahren mit Mr. Leam und Pierre Michel Levallois eine Kombo namens Louba aus der Taufe hob. Die Band Orange, aus der später Air hervorging, zählte zu ihren Wegbegleitern. Philippe wuchs in den französischen Alpen auf. Wie sein Vater erlernte er das Handwerk des Toningenieurs. 1988 lernte er Hubert Blanc-Francard kennen. 1991 engagierte Hubert, der mittlerweile als Produzent für den Rapper MC Solaar tätig war, Zdar als Tongingenieur. Aus der gemeinsamen Arbeit gingen in der Folge die Projekte La Funk Mob und Cassius hervor.
Nach dem Split von Louba ließ sich De Crécy in der französischen Hauptstadt nieder und bekam die Möglichkeit, als Engineer beim Studio Plus XXX einzusteigen. Bei der Studioarbeit traf er auf Zdar und die beiden fingen an, gemeinsame Tracks zu produzieren. 1993 erschien die "Motorbass EP" auf dem gleichnamigen, eigens dafür ins Leben gerufenen Label. Sie verschaffte dem Duo vor allem in England Aufmerksamkeit. Danach erschienen noch zwei weitere EPs sowie 1995 die Doppelsingle "Ezio / Les Ondes" als Vorbote für "Pansoul".
Ein paar Vorabexemplare von "Pansoul" schmuggelte man nach Großbritannien. Laut dem Londoner Label Tag Records kauften vor allem aufgeschlossene Kunden das Album. Doch nur wenige DJs schenkten der Platte Beachtung. Im Heimaland überschattete der Erfolg von Daft Punk die Veröffentlichung, die sich ein Jahr zuvor mit der Single "Da Funk" achtzehn Wochen lang in den Charts hielten. Letzten Endes erhielt das Werk erst Jahre nach dem Release die Kritikeranerkennung, die es verdient hat. Uncut bezeichnete es anlässlich der ersten Wiederveröffentlichung "als eine der wichtigsten Platten" der 90er-Jahre.
"Fabulous" hält mit subtilen Hi-Hat- und Elektronikklängen sowie einem Spoken Word-Sample zunächst die Spannung, nimmt in der zweiten Hälfte jedoch eine Abzweigung in Richtung Instrumental Hip Hop. Die Musik auf "Pansoul" war viel zu vielschichtig, um sie ausschließlich auf dem umgangssprachlichen Begriff French Touch zu reduzieren. Die Musik hätte zum Teil genauso gut aus Kalifornien stammen können, wo zu der damaligen Zeit ein gewisser DJ Shadow die Musikgeschichte nach Samples abgraste.
Straightere und groovigere House-Töne stehen in "Ezio" auf dem Programm, bei dem man schon den besonderen Hang De Crécys und Zdars für markante Gesangssamples deutlich heraushört. So schwebt die Stimme von Diana Ross aus "And If You See Him" himmlisch über verträumte Harfensounds aus dem Fairlight CMI. "Flying Fingers" bildet mit seiner minimalistischen Ästhethik und seinen rohen, repetitiven Klängen ein frühes Musterbeispiel von Filter House und endet mit einem Sample von Gang Starrs "Just To Get A Rep". "Les Ondes" lebt demgegenüber von deepen Tunes und einem einprägsamen Sample aus Isaac Hayes' "Need To Belong To Someone", verfügt aber auch über eine großartige, tanzbare Spannungskurve.
Mehr jazzige Untertöne hat dagegen "Neptune" zu bieten, das - durchzogen von einem Gesangssample aus Sun Ras gleichnamigen Stück - wunderbar vor sich hinbounct. Seine Vorliebe für Jazz betont das Duo auch in "Wan Dence" mit einem Saxofonsample aus Wayne Shorters "Infant Eyes". Der Track besitzt, ähnlich wie "Da Funk", einen recht funkigen Unterbau und knüpft an die rohe French Touch-Ästhetik von "Flying Fingers" wieder an.
Funkige und jazzige Klänge hört man in Kombination mit verträumten Klaviertupfern und perkussiven Rhythmen auch in "Genius", das eine nächtliche Großstadtstimmung heraufbeschwört. The Pharcydes "Otha Fishs" überführen Motorbass mit wilden Percussiongrooves und knalligen Dancebeats in "Pariscyde" krachend nach Paris.
Bei "Bad Vibes (D.Mix)" handelt es sich um eine Remixversion des schon ein Jahr zuvor im Original erschienenen Tracks, in der die Franzosen Billie Holidays 1956er-Live-Version von "I Cover The Waterfront" zu markanten Hi Hat- und Trommelsounds sowie loungigen Untertönen durch den Filter jagen. Am Ende treffen in "Off" Kontrabasstöne aus Herbie Hancocks "Trust Me" und melancholische Streicherklänge aus Gladys Knight & The Pips' "Neither One Of Us (Wants To Be The First To Say Goodbye)" auf knisterndes Vinyl.
1997 brannten sich Daft Punk mit der Single "Around The World" endgültig in das Gedächtnis des Mainstreams ein. De Crécy und Zdar pflegten seit jeher ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Erfolgsduo und fertigten einen Remix zu dem Track an. Der Erfolg kam für De Crécy auf breiter Ebene im Folgejahr mit der Singleauskopplung "Prix Choc" von seinem 1996er-Debüt "Super Discount".
Zdar reiste um die Jahrtausendwende herum mit Cassius um die Welt, 2010 gewann das von ihm gemixte Album "Wolfgang Amadeus Phoenix" von Phoenix den Grammy in der Kategorie Best Alternative Music Album. 2013 sampleten Jay-Z und Kanye West einen Cassius-Track, wodurch sich der Ruhm noch weiter vergrößerte. Seinen wohl größten Hit landete das Projekt 1999 mit "Feeling For You". Im Juni 2019 starb Philippe Cerboneschi in Paris tragisch aufgrund eines Sturzes aus dem dritten Stock seines Hauses im 18. Arrondissement, zwei Tage vor Release des Cassius-Longplayers "Dreems" sowie Hot Chips Platte "A Bath Full Of Ecstasy", für die er ebenfalls hinter den Reglern saß.
Trotz aller tanzbaren Momente zieht sich eine tiefgründige, geheimnisvolle Grundstimmung wie ein roter Faden durch "Pansoul". Zudem fördert die warme, hervorragende Produktion mit jedem weiteren Hördurchgang immer weitere Details zu Tage. Eine Platte, die ihr volles Potential vor allem über Kopfhörer entfaltet. Vielleicht war gerade deshalb die Welt 1996 noch nicht bereit für dieses Album.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar mit einer Antwort
Interessant, und bisher nie davon gehört oder gelesen, obwohl ich das "Tempovision"-Album immer Kult fand.
Dann nachholen. Hat man noch lange mit Freude.