laut.de-Kritik
Die Seele der jungen Generation: Selbstreflektion statt Weltflucht.
Review von Rinko HeidrichGuernsey ist eine kleine britische Insel, mit ein paar Schafen und einem so milden Klima, dass sogar Palmen dort wachsen. Ein idyllischer Ort, um aufzuwachsen - aber später die Hölle, gerade für einen Pop-Nerd wie Alex Crossan. Der hatte weniger Lust auf Spaziergänge in den Dünen und setzte sich lieber an den PC, um dort wie andere Kids seiner Generation aberwitzig viel Gigabytes an Musik zu konsumieren und selber zu machen. Eine großartige Möglichkeit, sich von den widrigen Umständen vor Ort abzukoppeln und im Do It Yourself-Modus Ideen mit der Welt zu teilen.
Mura Masa ist mittlerweile bei zwei Grammy-Nominierungen und sogar dem Sieg in der Kategorie bester Remix angekommen. Sein clubbiges Debüt war mit namhaften Gästen wie Damon Albarn und A$ap Rocky ein State Of The Art-Dance-Album, das mit verschiedenen Einflüssen eine grobe Skizze von der Zukunft der Dance-Musik zeichnete.
So überrascht "Raw Collage Youth" gleich zu Beginn mit ruhigem Electro-Folk und einem fast schon wehmütigen Gefühl. Mit gerade mal 23, so Alex in einem Interview, überkam ihn ein überwältigendes Gefühl der Nostalgie. "That house isn't mine anymore / That bedroom isn't mine anymore / It doesn't feel like that / Look over your shoulder / It feels like we're living in the end times", singt er in schönster Thom Yorke-Manier. "R.Y.C." fängt das Seelenleben zwischen wohliger Kindheitserinnerung und beginnender Kälte des jungen Erwachsenendaseins ein.
Der DJ dieser Generation schließt sich ins Schlafzimmer ein und sinniert über Traurigkeit und Veränderung. Inspiriert habe ihn dazu das Buch "Gespenster meines Lebens: Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft" des britischen Schriftstellers Marc Fisher. Der beschreibt in seinem kulturpessimistischen Buch, was schon Simon Reynolds als "Retromania" definierte: Seit 20 Jahren wird nicht mehr über die Zukunft von Musik verhandelt, sondern nur noch wiederholt und die rapide Steigerung von Depression unter Jugendlichen mit der immer gleichen Heiter-Dumpfmusik betäubt. So ist "R.Y.C." vielleicht der erste Kommentar zu einem neuen Jahrzehnt, in dem keine Utopie oder Weltflucht, sondern eine nüchterne Selbstreflexion einsetzt.
Als ob er seinem wehmütigen Kumpel in den Hintern treten müsste, brüllnuschelt Slowthai ihn in "Deal Wiv It (With Slowthai)" an. Die Freunde maulen, weil du früher von der Party nach Hause gehst? Dann ist das ebenso. Die anderen finden, du bist anstrengend? Passiert. In seiner rotzigen Attitüde passt dieser Punk-Song mit der markanten "Blue Monday"-Basslinie stilistisch erst einmal weniger zu den anderen sentimentalen Tracks, doch bildet er präzise das jugendliche Gefühlschaos ab.
Das Album legt die Seele der jungen Generation frei, die trotz solcher rotzigen Momente eine große Verlorenheit kennzeichnet. Gastsängerin Tirzah sinniert in "Today (With Tirzah)" mit lakonischer Stimme darüber, wie es wäre, alles endlich hinter sich zu lassen, während Mura Masa Dream Pop als Zitat der Vergangenheit aufnimmt und es mit verspultem Cloudrap mischt.
Wie selbstverständlich gleitet auch "Teenage Headache Dreams (With Ellie Rowsell)" durch verschiedene Genres: Pop, Chillwave und Shoegaze-Electro. Sich Zitate aus sämtlichen Epochen zu schnappen, mag einfach zu sein, aber sie derart selbstverständlich in Einklang zu bringen, erfordert musikalisches Können. "Teenage headache dreams / Seems like the good time's over" ist ein universelles Nostalgiegefühl. Es fühlt sich an wie ein zynischer Kommentar zu Katy Perrys 10er-Bubblegum-Verklärung "Teenage Dream".
Insgesamt stellt "R.Y.C." einen harten Bruch mit dem Vorgänger dar. Auch wenn dort die Songs schon zu gewitzt waren, um einfach als Dance durchzugehen. Doch dieses Album ist reinster Bedroom-Pop. Musik, zu der man sich in die Decke einkuschelt und seufzend aus dem Fenster stiert. Etwas zu pathetisch, zu viel großer Weltschmerz und zu viel Sentimentalität. Wer es nicht fühlt, war nie jung oder schon immer abgestumpft.
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