laut.de-Kritik
Der Apostel des Progressive-Rocks.
Review von Yan VogelAm 2. August vor 60 Jahren erblickte Meister Neal Morse das Licht dieser Welt. Wahrlich steht man staunend vor dem Lebenswerk dieses Mannes, der mit Spock's Beard, Transatlantic und The Neal Morse Band
grandiose Werke erschaffen hat, etwa "Snow", "The Whirlwind" oder "The Similitude Of A Dream".
Beeindruckend, bedenkt man, dass er bis Mitte 30 recht erfolglos alsSinger/Songwriter unterwegs war, der mehr schlecht als recht versuchte, an Elton John anzuknüpfen. Manchen zieht es nach solchen Rückschlägen auf ewig in die Wüste, Morse ereilte hingegen der Ruf Gottes und fortan übte sich der Mutliinstrumentalist in Quintenzirkeltraining und unermüdlicher Glaubensexegese als Apostel des Progressive-Rocks.
Aber hier soll es nicht um die Würdigung seines Lebenswerks gehen, sondern um nackte Tatsachen, sofern bei einem Gläubigen das Wort nackt angebracht ist. Die Analogien zu "Sola Scriptura" liegen nicht nur in der Wahl des Albumtitels und Artworks auf der Hand, sondern auch in der Beschreibung des Wirkungsweges eines Mannes - im ersten Fall Luther, im zweiten Paulus. Letzterer hieß im ersten Leben Saulus, verfolgte Christen und war auch sonst um keine Verwegenheit verlegen. Bis Jesus he knows him ihn erleuchtete. Vom Saulus zum Paulus, you know?
Wir sind hier zwar nicht im Bibelkreis, worum es sich en detail dreht, lässt sich aber den Episteln des Apostel Paulus entnehmen. Morse selbst meint, dass sein Konzept einzig die Zeit bis zum besagten Sinneswandel abdeckt. Das soll als Hinweis genügen. Für einen zweiten Teil gibt es also entsprechend genug Material.
Was hat sich nun verändert im Vergleich zu vor 2.000 Jahren? Früher gings zu Pilatus, heuer zu Pilates, um den Körper zu schinden. Die Vertonung der Jesus-Story, "Jesus Christ The Exorcist", fiel noch eher Musical-mäßig aus. Nun macht Morse Nägel mit Köpfen. "Building A Wall" mit seinem stampfenden Beat, dem Mauer-Sujet sowie den Chor-Passagen erinnert eindeutig an Pink Floyds "The Wall". Die musikalischen Eckpunkte mit Intro, Ouvertüre inklusive Themenexposition und Grande Finale finden sich in sämtlichen Konzeptalben, auch wenn der Abschluss "Now I Can See/ The Great Commission" eher durchwachsen ausfällt und an "Wind At My Back" oder "Broken Sky" nicht heranreicht.
Die größte Stärke der Platte liegt dann im Mittelteil, der gute Prog-Kunst - Nachdenklichkeit und Konfusion - zusammenbringt. Die Ballade "Never Change" zitiert einmal mehr Pink Floyd nebst Gilmour-Gedächtnis-Blues und mündet in den furiosen Konflikt "Seemingly Sincere", der neben einer Beatles-Hook reichlich musikalisches Kraftfutter parat hält.
Morse agierte Corona-bedingt nicht mit der gesamten Band, nur Mike Portnoy und Randy George waren mit von der Partie. Die eiligen drei Könige hegen nun den Anspruch die Lücken adäquat zu schließen. So bemüht Morse sein Spock's Beard-Gedächtnis, flicht er doch häufig kernig-spontane Momente ein, die man von seinem Bruder Alan kennt, an den Tasten erinnert er in den irrwitzig-wahnsinnigen Phasen an Ryo Okumoto. Entsprechend klingt die Musik stark nach den Bärten zwischen 1996 und 2002.
Die Opulenz der späteren Solowerke oder der Input der Bandmitglieder Bill Hubauer, der gerne Sixties-Analogien einstreut, oder Eric Gilette, der manch rasiermesserscharfes Riff aus dem Ärmel schüttelt, geht "Sola Gratia" aber ab. Man kann es eben nicht allen recht machen. Dennoch: Wer den nächsten Bibelkreis mit ein wenig Rockmusik aufhübschen möchte, legt am besten "Sola Gratia" auf.
4 Kommentare mit einer Antwort
Stimme zu. Band hätte musikalisch mehr gerissen, Gilette und Hubauer fehlen gerade kompositorisch schon stark. Gleichzeitig find ich's gut, dass er die Band nach den beiden Brocken die Silmilitude und Adventure waren mal ruhen lässt und die expliziteren Gott-Alben klanglich etwas davon distanziert.
Mit Prog hat das hier kaum etwas zu tun. Morse of the same eben.
Hatte zu Morse bisher nie den Zugang gefunden, aber die gefällt mir ganz gut. Würde mich trotzdem interessieren, was "Builing A Wall" mit Pink Floyds "The Wall" bis auf das Wort "Wall" gemein hat.
Dieser Mann hat in seinem Keller eine Maschine stehen, die alle sechs Monate einen kalorienreichen Pseudo Prog Fleischklops mit viel Geschmacksverstärkern und allerhand E's und "hastenichgesehn" rausdrückt. Daran ist nichts originell, neu, innovativ oder nachhaltig. Den religiösen Glibber wirft eine andere Maschine gleich daneben aus. Man muss nur alle Knorr-Fix Produkte gleichzeitig oben rein schütten.
Ach, Prog Rock ist leider zu seinem Gegenteil mutiert, indem er genau das macht, was zehntausend andere Bands vorher schon gemacht haben. Seit TMV weg sind, hat mich aus diesem ungefähren Bereich keine Band mehr so richtig, richtig begeistern können. Höchstens Haken noch, auch wenn sie es sich ebenfalls etwas zu bequem eingerichtet haben. Ist trotzdem schön, wenn ein Projekt für ein paar gute Riffs und Progressions sorgt, und der Sound in Ordnung ist.