laut.de-Kritik

Mondäne Mischung aus Pop mit Charisma und Easy Listening.

Review von

Es kommt zur Zeit so viel K-Pop auf den Markt, dass gefühlt jede zweite Woche eine neue Gruppe auf die Welt losgelassen wird. Das Hintergrundrauschen an explosiven, bunten und lauten Pop-Acts schwillt zu einem derartigen Dröhnen heran, dass man entweder selbst laut genug ist, es irgendwie zu übertönen, oder aber einen ganz anderen Weg sucht. HYBEs neue Girlgroup NewJeans schreibt gerade rekordverdächtige Zahlen mit ihrem ohne jede Ankündigung veröffentlichten Debüt-Song "Attention". Ihr selbstbetiteltes erstes Minialbum zeichnet sie als Vollendung der Kreisbewegung: War der akzelerierte K-Pop-Zirkus eine Gegenbewegung zum verschnarchten westlichen Pop, holt "NewJeans" eine unterschwellige Y2K-Coolness und Leichtigkeit in das Genre zurück.

Das Ergebnis ist ein kleines Tape und eine Gruppe, die erfrischend wenig nach der Bestätigung im Westen sucht und entsprechend auch augenblicklich in ihrem Heimatland Korea durch die Decke geht. Ihre mondäne Mischung aus dem Easy Listening von koreanischem R'n'B à la Dean oder Crush mit peppigen K-Pop-Songstrukturen und elektronischen Ideen aus Future Bass und leichtfüßiger Electronica sorgen für einen Trademark-Sound, der federleicht reingeht, aber doch genug Tiefe besitzt, um langfristig im Kopf zu bleiben.

Man hätte sie auch nicht besser einführen können als mit dem herausragenden "Attention", einem der besten Popsongs des Jahres. Das kann man komplett in die R'n'B-Schiene sortieren, wo es sich aber clever von dem traditionsreichen und meist etwas ernster-erwachseneren US-R'n'B abgrenzt und den Sound mit einer jugendlichen Leichtigkeit spielt.

Stattdessen liegt der Fokus auf musikalischen Ideen, die nicht alt werden: Vocal-Harmonien zum Beispiel, die stimmliche Koordination im Refrain klingt fantastisch, aber auch die Verses bieten eindrucksvolles, unangestrengtes Teamwork mit viel Abwechslung und abgestimmten Stimmfarben.
All die Songs teilen, dass sie leichtfüßige Grooves und euphorische, entspannte Stimmungen auf dem Fundament von HYBEs technischer High-End-Produktion fußen lassen.

Der auch schon für NCT aktive Produzent 250 arbeitet mit Grooves knapp über dem mittleren Tempo und fiedelt genial mit Samples, Hintergrund-Harmonien und Klangtiefen, die auch Songs wie "Hype Boy" und "Cookie" futuristisch und nostalgisch gleichzeitig klingen lassen. Die Einführung von Future Bass und manipulierten Vocal-Samples referenzieren auf ein Bild der Zukunft der Vergangenheit. Man denkt an Y2K-Retrofuturismus, und damit ordnen sich die Koreaner hier genau einen Halbschritt vor dem Westen in die Nostalgiespirale ein.

Allein der Titeltrack "Cookie" stößt negativ auf, wenn man sich darauf einlässt, genauer darüber nachzudenken, ob die Textstellen gerade in der Bridge nicht doch ein wenig arg suggestiv und anstößig für eine Gruppe voller Minderjähriger sein könnten. Und diese Kritik ist komplett legitim, denn man müsste sich der "Keks"-Metapher schon sehr naiv annähern, um nicht ein gewisses Maß an sexueller Anspielung herauszuhören. Gleichzeitig lässt sich aber auch nicht ganz sagen, ob da nicht in der Übersetzung etwas verloren geht oder hinzukommt. Aber diesseits des Urals muss man ja auch nicht alle Texte ganz genau verstehen, vor allem, wenn vor der Wand des Koreanischen ein so einschlägiger Refrain und ein so ausgefeiltes Sounddesign stehen.

Auf jeden Fall bietet NewJeans frischen Wind für eine Szene, die sich in ihrer Megalomanie langsam selbst erdrücken würde. Jahr für Jahr springen die neuen Gruppen dem langsam unabdingbaren Höher-Größer-Weiter-Wettbewerb übers Stöckchen. Da erfrischt uns alle, dass eine Gruppe mit einem kohärenten, leichtfüßigen Sound ums Eck kommt. NewJeans sind so ungewohnt unangestrengt - und damit heben sie sich interessanterweise nicht so sehr von dem uns bekannten Pop-Markt ab, wie anderer K-Pop es tut. Aber vielleicht lohnt es sich gerade deshalb, sich auf die Seouler Produktions-Qualität und Stimmharmonie einzulassen. Ihr Debüt macht Pop mit Charisma und Liebe zum Detail, wie man ihn sich wünschen würde.

Trackliste

  1. 1. Attention
  2. 2. Hype Boy
  3. 3. Cookie
  4. 4. Hurt

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3 Kommentare

  • Vor 2 Jahren

    Erstaunliches Review für ein nach meinem Geschmack sehr mittelmäßigem Album.

  • Vor 2 Jahren

    In der Tat ein erfrischendes Debut mit starken Songs. Auch wenn die Lyrics bei Cookie kontrovers sind, zumindest im internationalen/US-Bereich, ist es musikalisch gesehen top. Auch die Choreo dazu ist sehr gekonnt gemacht.

  • Vor 2 Jahren

    Zuerst fand ich es recht fad, aber nach ein paar mal hören bin ich wirklich begeistert. Die Stimmen harmonieren, die Meldoiebögen sind ausgefeilt. Es erinnert mich sehr an die Sugababes und ihr Debut im 2000. Ich höre auch sehr viel japanischen City Sound raus. Leider stößt dann Cookie tatsächlich etwas sauer auf mit den Lyrics, aber wollen wir nicht vergessen dass Britney und Christina auch 16 waren als sie "hit me one more time" oder "rub me the right way" aufforderten.