laut.de-Kritik
Der Songwriter in der Maschine.
Review von Yannik GölzEs gibt ein Bild, dessen Witz es ist, dass jeder Gegenstand darauf vage vertraut aussieht, aber man überhaupt nichts benennen kann. Es ist ein ziemlich hypnotisch-gruseliges Bild, es will nämlich den Effekt eines Herzinfarkts auf das Hirn emulieren.
Guckt man auf das Cover von Ninajirachis "I Love My Computer", dann bekommt man ein ähnliches, aber doch irgendwie das gegenteilige Gefühl: Die Produzentin und Sängerin liegt in einem ganzen See an Clutter. Es sieht alles vage Technicolour-Y2K-inspiriert aus, alles wirkt wie Kram, den man wahrscheinlich zum Musikmachen benutzen könnte. Benennen kann der Durchschnittsmensch hier ebenso wenig. Aber die Stimmung ist eine andere: Irgendwie haftet diesem in Grund und Boden bewohnten Winkel, dieser technologischen Höhle, etwas sehr Heimeliges, Gemütliches an.
"I Love My Computer" ist ein Manifest für diesen neuen Typus Cyborg-Musiker. Es ist ein EDM-Album für digitale Einsiedler, für Kids, die ihre Winkel nur über den Discord-Channel verlassen, es ist ein eremitenhaftes Album. Und gleichzeitig ist es ein Album, das vor Euphorie, Energie und Farben nur so strotzt. Ninas nostalgisches Suhlen in technologischer Erinnerung und ihre Selbstverwirklichung als Mp3-Lebensform ergibt für mich eins der überzeugendsten Alben des Jahres.
Für ein Album, dessen Tracks es im Schnitt kaum über acht nicht-wiederholte Lyrics pro Track bringt, weil der Rest durch reinen, ungefilterten EDM schon voll ist, hat man doch auf eine komische Art das Gefühl, es mit einem Songwriter-Projekt zu tun zu haben. Nicht nur, weil Nina absolut als eine lebendige und komplexe Protagonistin in Erscheinung tritt. Die Art, wie sie sich in das Wechselspiel und die Brandungen ihrer Drops integriert, gibt Storytelling-technisch so viel Sinn. Dieses Album fühlt sich confessional an.
Das ist natürlich einerseits in den eher persönlichen Tracks angelegt. Auch in Zeiten, in denen Nostalgie in Grund und Boden gerammt wurde, fühlen Tracks wie "iPod Touch" sich frisch an. Da ist etwas Verlorenes darin, wie naiv der Track Kindheit als eine Kette von isolierten, aber irgendwie freudvollen virtuellen Konsumentscheidungen skizziert, die aber auch bei uns sofort all die gleichen positiven Lichter aufleuchten lassen. Gleiches tut als Gegenstück "Infohazard" mit den negativen Seiten der 'hier ist ein Computer, guck einfach mal, Kleiner'-Kindheit: Ein Song über all die Enthauptungsvideos, die man mit zwölf vielleicht gesehen hat.
Der beste dieser Songwriter-Tracks (in Anführungszeichen) dürfte das ehrlich bewegende "Sing Good" sein: "I used to do the music class, they gave us an assignment / To write a little song, no real rules or gear rеquirement / And I can't really play good, but I'vе got a computer / And I put in the practice, so I'm just gonna use it". Wenn man dieses Album hört, dann erlebt man wirklich ein komplettes, rundes Portrait dieser jungen Frau, die ihr ganzes Leben in guten wie mit schlechten Zeiten mit ihrem Computer gelebt hat. Auf die Spitze getrieben wird das auf dem urkomischen "Fuck My Computer": "I wanna fuck my computer / Cause no one in the world knows me better".
Aber damit habe ich gerade nur ein Fünftel der Dauer von "I Love My Computer" beschrieben. Denn, ach ja, der Rest des Albums ist proppenvoll mit mitunter der besten elektronischen Tanzmusik, die man sich vorstellen kann. Ninas Stil ist grell und voller Bubblegum, er wird also über weite Strecken nicht unbedingt an die emotionale Vielschichtigkeit von Electronica-Titanen wie Aphex Twin oder Burial heranreichen. Das muss und will es aber überhaupt nicht. Dieses Album groovt von vorne bis hinten. Es ist Banger nach Banger nach Banger.
Besagtes "Fuck My Computer"? Der letzte Drop ist ein Erdbeben. Jeder Drop ist ein Erdbeben. "Delete" hat einen superinteressanten Rhythmus. "Battery Death" geht superhart. Manchmal verknüpft sie all die Techno-Goodness völlig unverkrampft mit zuckerigen, schwerelosen Pop-Refrains wie auf "iPod Touch". Manchmal geht sie richtig manifesthaft vor. Der fünfminütige Closer "All At Once" markiert da wohl die komplexeste und ambitionierteste Produktion. Und was soll man sagen? Auch sie ist ein totales Massaker.
"I Love My Computer" macht einen Heidenspaß. Und es macht so selbstevident einen Riesenspaß, dass eigentlich jeder, der diesem Album eine Chance gegeben hat, absolut sofort konvertiert wurde. Deswegen wollte ich in dieser Review ein bisschen hervorheben, dass der Unterbau an Songwriting und Charakterisierung - also von Sachen, die man in diesem Genre sonst so gar nicht erwarten würde - ebenfalls extrem beeindruckt. Keine Frage, dass das hier eins der definitiven elektronischen Projekte des Jahrzehnts sein wird - und man kann sich nur auf all die Artists freuen, die das hier inspirieren wird.


2 Kommentare
Yannsi, geh mal auf den Link zu dem Bild mit den weirden Objekten. Da steht, es geht um einen simulierten Schlaganfall, nicht um Herzinfarkte. Gern geschehen
"Wayside" und "Undo U" letztens als kostenloses Update für ein Rhythmusspiel bekommen. Jetzt weiß ich wieder, woher ich den Namen kenne. Vielleicht höre ich mal rein in das Album.