laut.de-Kritik

Langhaarige Musiker treffen auf traditionellen Country.

Review von

Wie außergewöhnlich, gar sensationell, die Aufnahmesessions waren, die zu diesem Album führten, zeigt sich an einem Gespräch zwischen Doc Watson und Merle Travis. Kaum zu glauben, dass sich die Country-Größen davor noch nie persönlich begegnet waren. "Weißt du, ich habe meinen Sohn nach dir benannt, in der Hoffnung, dass dein Können ein bisschen auf ihn abfärbt", so Watson. "Ich habe davon gehört. Ich fühle mich geehrt. Aber: da spricht der Richtige", erwidert Travis. Es folgen weitere Nettigkeiten, bevor sie das nächste Stück beginnen.

Dass die Stimmung so entspannt war, ist nach wie vor ein Wunder. Einerseits war da eine junge Rockband aus Los Angeles, mit langen Haaren und Bärten, andererseits die Sahne der alten Country-Garde. Die legte ihre konservativen Vorbehalte ab, als sie merkte, dass die Jugend tatsächlich spielen konnte. Und nicht ihre lauten Stücke mit ein paar Akustikeinlagen verschnörkeln wollte, sondern in ihre musikalische Welt eintauchen.

Nach holprigen Anfängen und zahlreichen Besetzungswechseln - auch Jackson Browne hatte ihr 1966 kurz angehört - war der Nitty Gritty Dirt Band 1970 mit dem Album "Uncle Charlie & His Dog Teddy" und der Single "Mr. Bojangles" (Platz 9 in den US-Charts) der Durchbruch gelungen. Während der Tour waren sie auch im Ryman Auditorium in Nashville aufgetreten, Veranstaltungsort der Grand Ole Opry.

Die Radioshow genoss zwar einen legendären Ruf, war aber etwas in die Jahre gekommen. Genauso wie die traditionellen Country-Stars, die ansehen mussten, wie der Nashville-Sound zunehmend polierter klang. "Heute gibt es bei Aufnahmesessions mehr Geigen- als Fiddle-Spieler" stellte die Zeitschrift Rolling Stone fest.

Die Nitty Gritty Dirt Band hatte ursprünglich traditionelle akustische Musik gemacht, alle Mitglieder beherrschten mehrere Instrumente und teilten sich das Mikrophon. Als der wegweisende Banjo-Spieler Earl Scruggs nach dem Auftritt im Ryman Auditorium meinte, er könne sich eine Zusammenarbeit vorstellen, kam der Stein ins Rollen.

Manager und Produzent Bill McEuen, Bruder von NGTB-Banjo-Spieler John, nutzte Scruggs als Türöffner, um weitere Größen mit an Bord zu holen. Die wichtigste war Roy Acuff, in den 1940er Jahren der wohl größte Country-Star neben Hank Williams. Maybelle Carter, Mitlied der legendären Carter Family und seit vier Jahren Schwiegermutter von Johnny Cash. Bluegrass-Star Jimmy Martin. Der blinde Sänger und Gitarrist Doc Watson und sein neu gewonnener Freund Merle Travis, dessen Gitarrentechnik ehrfurchtsvoll "Travis-Picking" genannt wurde. Zu den Begleitmusikern gehörten Pete "Oswald" Kirby (Dobro), der virtuose Fiddler Vassar Clements und Bassist Junior Husky, der unmittelbar nach den Sessions starb.

Der große Abwesende war Bill Monroe. Dem "Erfinder" des Bluegrass waren die zotteligen Typen wohl nicht geheuer gewesen und er hatte die Einladung ausgeschlagen.

Das Grundkonzept war einfach: Anfang August 1971 sollten die Stars in sechs Tagen nach und nach ins Studio kommen und mit der NGDB Stücke aus ihrem Repertoire einspielen. Alle gemeinsam sollten sie zum Schluss das Gospel-Stück "Can The Circle Be Unbroken" in der Version der Carter Family singen. Produzent McEuen hielt sich im Hintergrund auf und verwendete für die Musik lediglich ein Zwei-Spur-Gerät. Parallel ließ er ein Band mitlaufen, um die Gespräche während der Sessions aufzunehmen. Die nutzte er bei der Abmischung, um die entspannte Stimmung wiederzugeben.

Acuff gab die Richtung vor. "Ein Take, mehr nicht. Jeder weitere verwässert das Ergebnis. Also auf geht's, legt alles ins erste Mal und zum Teufel mit dem Rest", erklärte er vor "The Precious Jewel". Sein Engagement war darauf zurückzuführen, dass er sich eine neue Zuhörerschaft erhoffte. Routiniert sang er zudem "Wreck On The Highway", "Pins and Needles (In My Heart)" und Hank Williams' "I Saw The Light". Um die alten Unterstützer nicht zu verlieren, erklärte er vorsorglich in der lokalen Postille, dem Nashville Tennessean, dass "man den Charakter eines Menschen an dessen Gesichtszügen erkennt. Wenn das Gesicht aber komplett bedeckt ist, dann ..." Immerhin seien sie sehr nett gewesen und hätten gewusst, was sie tun.

Jimmy Martin legte sich deutlich mehr ins Zeug. Er übernahm den Gesang im eröffnenden "Grand Ole Opry Song" und in weiteren fünf Stücken. Für Gänsehautfeeling war aber Maybelle Carter zuständig, ehrfürchtig Mother genannt, die Gitarre zupfend gleich als zweites Stück "Keep On The Sunny Side Of Life" zum besten gab. Mit der Autoharp war sie außerdem auf "I'm Thinking Tonight of My Blue Eyes" und "Wildwood Flower" zu hören.

Und die Band, deren Name auf dem Cover prangt? McEuen verstand sich am Banjo so prächtig mit Scruggs, dass sie während der Session das fröhliche Instrumental "Soldier's Joy" schrieben. Les Thompson bediente die Mandoline. Die weiteren Mitglieder Jim Ibbotson, Jeff Hannah und Jimmie Fadden spielten verschiedene Instrumente und steuerten den Hintergrundgesang bei. Bei jeweils einem Stück übernahmen sie den Hauptpart: Fadden bei "Honky Tonkin'", Hannah bei "Honky Tonk Blues" (beide aus der Feder von Hank Williams) und Ibbotson bei Leon Paynes "Lost Highway".

"Könnte man nur Musiker wie sie anheuern, um hier in der Gegend zu spielen"", seufzte Martin im Nashville Tennessean. "Kaum vorstellbar, was passieren würde. Aber hier gibt es keine solchen Musiker. Mein Banjo-Spieler liegt jetzt wahrscheinlich im Bett und pennt."

Wie gut sie alle harmonierten zeigt sich insbesondere an den zahlreich eingestreuten Instrumentals wie "Nashville Blues", "Black Mountain Rag", "The End Of The World" (ganz ohne Beteiligung der NTDB), "Lonesome Fiddle Blues", "Avalanche", "Earls Breakdown" oder dem jaulenden, passend betitelten "Sailin' On To Hawaii". Ohne Gesang endet auch das Album. Joni Mitchells "Both Sides Now", mit Earls Scruggs Sohn Randy solo an der Gitarre, klingt allerdings wie ein nachträglich angefügter Schnipsel.

Den eigentliche Abschluss bildet die All Star-Version von "Can The Circle Be Unbroken" (NGDT ersetzten "Can" durch "Will"). Der darin besungene Kreis verband die alte und die neue Generation, konservative und liberale Werte, die Westküste und das staubige Texas. Eine Seltenheit in jenen Tagen, fast undenkbar in den heutigen.

Die Platte hielt sich lange in den Charts und erreichte in den USA Platinum-Status. Eine Country-Band wurde aus der Nitty Gritty Dirt Band aber nicht, fröhlich mischte sie im Laufe ihrer bis heute anhaltenden Karriere akustische Elemente mit Pop und Rock. Den Erfolg zu Beginn der 1970er Jahre konnte sie nicht wiederholen, dennoch gelang ihr 1974 das Kunststück, an einem Tag auf einem Bluegrass-Festival aufzutreten und am nächsten als Vorband für Aerosmith. 1976 waren sie die erste US-Band überhaupt, die durch die UdSSR tourte.

1989 begab sich das damalige Lineup wieder nach Nashville, um "Circle" Teil 2 aufzunehmen. Von der ersten Session waren Jimmy Martin, Earl Scruggs, Vassar Clements und Roy Acuff am Start, zu ihnen gesellten sich unter anderen Johnny Cash, seine Tochter Rosanne, Emmylou Harris, John Denver, John Prine und die Byrds. Die Platte heimste zwei Grammys ein. 2002 kam ein dritter Teil hinzu, bei dem Doc Watson, Randy Scruggs und Jimmy Martin zu hören waren, neben Johnny Cash, seiner Frau June Carter, Willie Nelson, Tom Petty und Alison Krauss.

Am bekanntesten ist freilich der erste Teil geblieben. "Es gab keine Diskussionen über Republikaner und Demokraten, Hippies oder Rednecks, Langhaarige oder den Vietnam-Krieg. Das spielte alles keine Rolle. Das Album bildete lediglich die schönen Aspekte des Americana ab", fasste John McEuen 30 Jahre nach der Veröffentlichung zusammen. Der Nashville Tennessean nannte sie bei der Veröffentlichung "eine der vermutlich wichtigsten Platten aus Nashville in den letzten 45 Jahren".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

LP 1

  1. 1. Grand Ole Opry Song
  2. 2. Keep On The Sunny Side
  3. 3. Nashville Blues
  4. 4. You Are My Flowe
  5. 5. The Precious Jewel
  6. 6. Dark As A Dungeon
  7. 7. Tennessee Stud
  8. 8. Black Mountain Rag
  9. 9. The Wreck On The Highway
  10. 10. The End Of The World
  11. 11. I Saw The Light 3:45

LP 2

  1. 1. Sunny Side Of The Mountain
  2. 2. Nine Pound Hammer
  3. 3. Losin' You (Might Be The Best Thing Yet)
  4. 4. Honky Tonkin'
  5. 5. You Don't Know My Mind
  6. 6. My Walkin' Shoes
  7. 7. Lonesome Fiddle Blues
  8. 8. Cannonball Rag
  9. 9. Avalanche
  10. 10. Flint Hill Special
  11. 11. Togary Mountain
  12. 12. Earl's Breakdown
  13. 13. Orange Blossom Special
  14. 14. Wabash Cannonbal

LP 3

  1. 1. Lost Highway
  2. 2. Doc Watson & Merle Travis: First Meeting (Dialogue)
  3. 3. Way Downtown
  4. 4. Down Yonder
  5. 5. Pins And Needles (In My Heart)
  6. 6. Honky Tonk Blues
  7. 7. Sailin' On To Hawaii
  8. 8. I'm Thinking Tonight Of My Blue Eyes
  9. 9. I Am A Pilgrim
  10. 10. Wildwood Flowe
  11. 11. Soldier's Joy
  12. 12. Will The Circle Be Unbroken
  13. 13. Both Sides Now

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