laut.de-Kritik
Neue Kraftmeier-Hits der Techno- und EBM-Urväter.
Review von Michael SchuhSchon nach wenigen Sekunden des Openers "Promises" muss die Frage gestattet sein: In welchem Jahr leben wir eigentlich? Nitzer Ebb hatten ihre große Zeit zwischen 1986 und 1990, weshalb es zunächst legitim erscheint, dass sie ihr großes Comeback-Projekt mit schnurgeraden EBM-Beats eröffnen, die dem Hörer schonungslos das eigene Alter vor Augen führen.
Dabei hätte man aber gerne auch aufs Songwriting achten können, denn im Opener rattert der Sequencer so einfallslos und obsolet vor sich hin, dass der Eindruck, man wolle hier dumpf an den Uralt-Hit "Murderous" anknüpfen, nur schwer von der Hand zu weisen sein dürfte. "Time is not on your side" singt Douglas McCarthy auch noch und man mag ihm spontan Recht geben.
Geht es beim "Industrial Complex" wirklich nur um den blanken Euro (siehe Cover)? Nicht ganz: Die Mehrheit der Fans mögen Nitzer Ebb für jene mit hoher BPM-Schlagzahl ausgerichteten Kraftmeier-Hits der Sorte "Let Your Body Learn" in Erinnerung behalten haben, die später nur noch Rummelsnuff zu kopieren wagte. Doch gerade gegen Ende ihrer aktiven Zeit ließen die Briten ein Gefühl für Atmosphäre und Melodie erkennen, die ihnen Mitte der 80er Jahre niemand zugetraut hätte.
Das schleppend schiebende und sicher auch für NIN-Fans interessante "Never Known" erinnert erstmals an diese Phase, bevor mit "Going Away" der erste richtige Höhepunkt des Albums vorstellig wird. Zu einem einsamen wie raumfüllenden Synthie-Sound legt McCarthy die ganze Bandbreite seiner vielseitigen Stimme offen. Gänsehaut-Alarm.
Derart in Form gekommen, zeugen das auf Oktavbass und Galeerenbeat basierende "Hit You Back" und das rotierende Noise-Karussell "Payroll" von der Fähigkeit Nitzer Ebbs, auch im Jahr 2010 Songs zu komponieren, die eindeutig auf alte Trademarks verweisen, ohne nur im Geringsten angestaubt zu wirken.
Immer dann, wenn das BPM-Tempo anzieht, nähert sich die Electronic Body Music-Institution jedoch der Selbstparodie - nachzuhören in "Down On Your Knees" und mit Abstrichen in "I Don't Know You". Den größten (melancholischen) Pop-Moment weist das getragene "I Am Undone" auf. Kein Wunder, dass der alte Freund Alan Wilder hier remixtechnisch zu Werke ging (nur auf der 2CD-Special Edition).
Wieso der zum 1995er Abschiedsalbum "Big Hit" engagierte Drummer Jason Payne für das Comeback erneut reaktiviert wurde, ist zumindest anhand des Soundbilds nicht wirklich erklärbar. Sollte Payne viele Spuren live eingehämmert haben, wurden diese im Hi-Tech-Studio entsprechend bearbeitet.
Unterm Strich steht eine Album-Rückkehr, die in bestimmten Momenten an die Einzigartigkeit der Techno-Urväter erinnert und ganz sicher mehr Spaß macht als McCarthys Übergangsprojekt mit Terence Fixmer.
1 Kommentar
Ich fand ja die erste Fixmer/ McCarthy irgendwie gelungener und innovativer. Die harten Technobretter mit Douglas Shout- Gesang beschworen noch sowas wie Power.
Die Nitzer Ebb- Rückkehr hat für mich leider einen bitteren Beigeschmack. Zum einen, weil Nitzer Ebb eher zu einer schlechten Selbstkopie verkommen ist und wie schon erwähnt, das Songwriting zu wünschen übrig lässt. Auch die Crossover- Elemente find ich eher nervig, denn gelungen. Eine Enttäuschung, die neue Scheibe.