laut.de-Kritik

Ein Tritt in den Unterleib der ewig Gestrigen.

Review von

Es ist noch nicht lange her, da mussten sich Pearl Jam mal wieder verteidigen. Der frisch unterzeichnete US-Vertriebsdeal mit der Großhandelskette Target lag einigen Fans quer im Magen. In den USA erscheint "Backspacer" über ein Patchwork an physischen und digitalen Partnern, darunter alle Target-Filialen, ein Onlineshop, ein Mobilfunk-Partner, eine Spielefirma, der Ten Club und zahlreiche Indie-Plattenläden.

Nie war es anhand dieser tatsächlich im Jahr 2009 stattfindenden Diskussion so leicht, das Durchschnittsalter dieser Kritiker zu erraten. Es sind technikferne Menschen weit jenseits der 30, die seit einem halben Leben alle Platten der Band brav als CD im Großhandel kaufen und bis heute nicht über die Pearl Jam-Niederlage gegen den Ticketmonopolisten Ticketmaster hinweg gekommen sind.

Die Diskussion zeigte aber auch, wie eng diese spezielle Fanzine-Bindung der Band zu ihren Fans bis heute ist, die unter branchenüblichen Gesichtspunkten schon mit dem '91er Millionenseller "Ten" hätte vorbei sein müssen.

Letztlich fühlte sich sogar Eddie Vedder bemüßigt, die Wogen zu glätten, bat um "Vertrauen" und sprach von einem "moralischen Barometer" innerhalb der Gruppe, vor dem sich die Target-Entscheidung bewährt habe.

Ironie der Geschichte: Selten bestand so wenig Rede- oder Erklärungsbedarf nach einem Pearl Jam-Album. "I wanna shake this day before I retire", krächzt Vedder auf dem straighten Rock'n'Roll-Opener - und schon zwei Songs später glaubt man ihm: Der Mann ist wirklich "sick of everything" und seine Band will es noch einmal wissen.

An die Schnörkellosigkeit der Avocado-Riffklötze wurde angedockt, überflüssige Spuren getilgt und all die larmoyanten Zwischentöne, die schon seit Jahren seltsam unzeitgemäß klangen, über Bord geworfen.

Yes we can, finally. Denn sollte der erklärte Held Neil Young in der George W. Bush-Ära musikalisch auch zu Hochform aufgelaufen sein, Pearl Jam sind es leider nicht.

"Backspacer" ist nun der lang erwartete Befreiungsschlag und klingt wie ein Tritt in den Unterleib der Ewiggestrigen (und des republikanischen Ex-Präsidenten). Vier Songs in zwölf Minuten, erst dann gibts passenderweise mit der Ballade "Just Breathe" Zeit zum Verschnaufen, gleichzeitig eine der schönsten Balladen seit Jahren, die schwer den Fingerpicking-Charme von Vedders Soloalbum atmet.

Man spürt, dass die Gruppe von Anfang an eine klare Vision hatte, mit der sie zum Glück nicht zum Arzt, sondern zu Brendan O'Brien ging, dem ewigen, aber elf Jahre verschmähten Produzenten-Buddy, mit dem sie gerade erst das "Ten"-Debüt deluxe-technisch updateten.

So fühlt man sich zu Beginn des Albums vielleicht nicht ganz zufällig an selige "Vs."-Zeiten erinnert, dem ersten PJ-Album mit O'Brien. Tempo, Intensität, Melodien; ja, so ähnlich war das damals. Bassist Aments "Got Some" steckt die immerhin nette Vorabsingle "The Fixer" locker in die Tasche und erweckt (gemeinsam mit "Supersonic") den Anschein, als habe das überdimensionale Ramones-Poster im PJ-Hauptquartier die Musiker zusätzlich angetrieben.

Hatte man in den letzten Jahren oft das Gefühl, die Band verkrampfe bei ihren Versuchen, allen Erwartungen gerecht zu werden, ragen nun sogar Classic Rock-Stücke wie "Speed Of Sound" und "Amongst The Waves" wie Leuchttürme aus der Tracklist, deren Signale tatsächlich bis in die "Ten"-Vergangenheit leuchten. Oh, oh, we're still alive. Selbst von solch tränenrührenden Balladen wie "The End", angereichert mit obligatorischen Streichern, fühlte man sich lange nicht mehr berührt.

"Nothing's changed but the surrounding bullshit that has grown", formulierte Vedder einst. Lange mag das als Band-Credo durchgegangen sein, doch die Zeiten haben sich geändert. Teile der Gruppe betreten heute mit Brillengestell die Bühne, alle fünf haben Kinder und Vedder wirft in seiner Freizeit mit Äxten.

Ob er an dieses Freiluft-Hobby dachte, als er die Zeilen "Feel the air up above / a pool of blue sky (...) Yeh, this is living" im herrlich dynamischen und mit Piano versehenen "Unthought Known" zu Papier brachte? Es spielt keine Rolle. Genau so wenig wie die Frage, in welcher Form man sich dieses Album zu Gemüte führt. Hierzulande hat man da die gängige Qual der Wahl zwischen iTunes, Saturn und dem treuen Plattenspezi ums Eck.

Album-Stream:

"Backspacer" komplett anhören!

Trackliste

  1. 1. Gonna See My Friend
  2. 2. Got Some
  3. 3. The Fixer
  4. 4. Johnny Guitar
  5. 5. Just Breathe
  6. 6. Amongst The Waves
  7. 7. Unthought Known
  8. 8. Supersonic
  9. 9. Speed Of Sound
  10. 10. Force Of Nature
  11. 11. The End

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen PEARL JAM – Backspacer [Vinyl LP] €199,00 Frei €202,00

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Pearl Jam

Am Anfang steht ein tragischer Todesfall: Andrew Wood, Sänger der Band Mother Love Bone, der auch Stone Gossard (geboren am 20. Juli 1966) und Jeff Ament …

77 Kommentare

  • Vor 14 Jahren

    Falsch 60€ darfst du löhnen wenn du die Bekämpfer der Ticketausbeute sehen möchtest...

    Ich muss schon sagen die Fannähe scheint echt langsam abhanden zu gehen bei PJ. Soll mir jetz niemand erzählen, dass die dafür nichts können. Meine Karte habe ich im Fanclub für umgerechnet saftige 65€ erstanden und darf dafür früher rein. Wenn ich Glück habe bekomme ich vieleicht noch nen Hardticket.

    Sollte ein Laut-Redakteur mal eine Frage übrig haben, dann bitte diese hier:

    - Will PJ wie Barbra Streisand enden...umso älter umso gieriger? Sorry aber der Spaß ist schon lange vergangen.

  • Vor 14 Jahren

    Im Ausland ist es dann doch um einiges billiger. Ich überlege, ob ich mit meiner Freundin für einen Kurzurlaub nach Belfast fliege und dabei das Konzert von Pearl Jam mitnehme. 42 Pfund/46 Euro.

  • Vor 14 Jahren

    grml wie konnte ich nur um die band rumkommen? so ein geiles album