laut.de-Kritik

Über Nurejew, Wilde, Bowie, Schlager und Sauerkraut.

Review von

Die Pet Shop Boys von 2024 sind natürlich nicht mehr die Fiftysomethings aus den Nullerjahren. Das merkt man, liest man sich Interviews zum neuen Album "Nonetheless" durch. Ihre lässigen Hoodys von damals tragen sie noch, wie man erfährt, aber während ich mich an grandiose, erhellende Gespräche mit ihnen über Italo-Disco-Superhelden wie Alexander Robotnick oder Righeira erinnere, parlieren die britischen Pop-Säulenheiligen heute ungerührt über Helene Fischer und die Flippers. Das sind Abgründe, an denen ich Neil Tennant und Chris Lowe niemals verortet hätte, in die sie sich aber irgendwo selbst hineinmanövriert haben mit einem Song namens "The Schlager Hit Parade". Dazu leider später mehr.

Man muss den Pet Shop Boys zugestehen, dass auch ihr Spätwerk immer wieder Highlights hervorbrachte ("Yes", "Electric"). Dennoch führte seltsamerweise gerade der Drang der stetigen Weiterentwicklung oft zu einer Art Blaupause im Soundbild. Neue Produzenten wurden ausprobiert, Songwriting-Kollabos, Tennant schrieb Lieder über Social Media und Putin, selbst Dancefloor-Apologet Stuart Price stand der allgemeinen Hoffnung auf einen weiteren Altersklassiker zuletzt eher im Wege.

Als Problembeseitiger tritt nun mal wieder James Ford ins Rampenlicht. Der 45-Jährige, der die imperiale Phase der Briten als Teenager miterlebte, polierte den speziellen Glanz dieser Zeit mit ruhiger Hand auf, wie er es kürzlich schon auf Depeche Modes "Memento Mori" tat. Dankenswerterweise ließ er auch die aufgekratzten Trance-Fanfaren in der Schublade verschwinden.

Die Vorabsingles wiesen auf eine "mixed bag" hin. Das mit euphorisch schwebender Bassline ausgestattete "Loneliness" bittet um Aufnahme in den PSB-Hymnenkanon und behandelt das in unserem Zeitalter der Dauerverfügbarkeit nicht an Schärfe verlorene Thema Einsamkeit. Schon hier wundert man sich über Tennants scheinbar alterslose Stimme. "Dancing Star", dem übergelaufenen russischen Ballett-Ausnahmetänzer Rudolf Nurejew gewidmet, der 1993 an den Folgen von Aids starb, will dagegen zu viel. Als suchten Tennant und Lowe zwanghaft das Rezept für einen Chartshit alter Schule, schlachten sie die 80er mit originalgetreuem Analogequipment samt "orchestral hits" und Roboterstimme aus und zerfasern dabei den Song.

Seine Stärke zieht "Nonetheless" aus den bedächtigen Tracks, die man auch altersgerecht nennen könnte, wären Tennant und Lowe genau hierfür nicht auch schon in ihren 30ern bekannt gewesen. Melancholisch und feingeistig schleichen sich "Why Am I Dancing?" und "A New Bohemia" mit jedem Hörduchgang näher an den Klassiker-Katalog des Duos heran. Die Fanfaren auf "Why Am I Dancing?" songdienlich statt aufdringlich, lässt uns Tennant an seinen einsamen Lockdown-Tanzeinlagen teilhaben, bevor majestätische Orchestersounds glorreiche "Behaviour"-Days in Erinnerung rufen. Überhaupt dürfte niemand, der bei Verstand ist, an der Soundpalette zwischen diesem 1990er Highlight und dem Debüt "Please" Kritik anbringen.

"A New Bohemia" steht exemplarisch für Tennants Zuschreibung, das neue Album sei "insgesamt melodischer" ausgefallen. Als klassische Piano-Ballade konzipiert, reflektiert Tennant über vergessene Helden einer vergangenen Ära, bevor im Refrain die Endlichkeit der eigenen Karriere anklingt: "I wish I lived my life free-and-easier / I need to find a new bohemia." Nostalgischer ist er im autobiografischen "New London Boy", das die Reize und Enttäuschungen seiner ersten Begegnungen in der Hauptstadt aufarbeitet. 40 Jahre nach "West End Girls" setzt Tennant als Reminiszenz sogar wieder zum Rap an. Die Umsetzung lässt den typischen Tennant-Flow allerdings vermissen, einige Zeilen klingen gestelzt. Bei "Last laugh is yours / there's a brick in your bag" hört man regelrecht die zwanzig Versuche, bis Tennant den Zungenbrecher endlich auf Band hatte. "Everyone's dancing to Roxy and Bowie" klingt dagegen viel zu profan für einen PSB-Text, davon abgesehen, dass der Erkenntnisgewinn gegen Null geht.

Die Deutschen und der Schlager. Auch dieses Thema befand Tennant wie gesagt für songtextwürdig, und spätestens bei der Zeile "Glühwein, wurst and sauerkraut" bereut man die Freude, die man beim Umzug des Duos nach Berlin vor einigen Jahren verspürte. So viele Ironiefilter kann man gar nicht anlegen, als dass man den Song, der mit "Go West"-Upbeat den naheliegenden Bogen schlägt, genießen könnte. Als Deutscher fühlt man sich natürlich auch ertappt: Im Ausland schaut man nämlich nicht nur auf uns wegen der Hansa Studios und Kraftwerk. Apropos: Das Rhythmusgerüst von "Feel" ist deutlich von den Düsseldorfern inspiriert, verwertet eine Prise House und beinhaltet den tollen Chorus "You make me feel like nobody else can / You make me feel like nobody else's man."

"Love Is The Law" am Ende ist ein weiterer inbrünstiger Appell an die (gleichgeschlechtliche) Liebe, die Oscar Wildes Zeit in Frankreich rekapituliert, als der Schriftsteller in die homosexuelle Undergroundkultur abtauchte. Die Leichtigkeit einer Beobachtung wie "Love Comes Quickly" ist wie weggeblasen, mit dem Alter überwiegt die Weisheit: "Love is the law but you can't regulate it / The desire is so strong and you won't moderate it." Trotz kleinerer Störgeräusche ist "Nonetheless" wieder eine wunderbare Pet Shop Boys-Platte geworden, zumal im Wissen um den leider unumgänglichen Abschied von der großen Bühne. Sooner or later, this happens to everyone, to everyone.

Trackliste

  1. 1. Loneliness
  2. 2. Feel
  3. 3. Why Am I Dancing?
  4. 4. New London Boy
  5. 5. Dancing Star
  6. 6. A New Bohemia
  7. 7. The Schlager Hit Parade
  8. 8. The Secret Of Happiness
  9. 9. Bullet For Narcissus
  10. 10. Love Is The Law

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10 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 7 Monaten

    Bin mit der Platte noch gar nicht warm geworden, sie reiht sich für mich ein ins allgemein doch eher stark enttäuschende Spätwerk. Die Rezension ist jedoch sehr gelungen, liest sich kurzweilig und hinterlässt bei mir den Eindruck, dem Album beizeiten doch noch mal eine weitere Chance geben zu müssen.

  • Vor 7 Monaten

    Schöne Rezension, die ich so unterschreiben kann. Ein tolles Alterwerk der PSB. Der Wechsel von Price zu Ford war wirklich eine gute Wahl der Jungs, der digitale (und oft sehr generische) elektronische Bum-Shaka-Bum-Sound von Stuart Price auf den letzten drei Alben war doch ein Album zuviel, nach Super war die Luft raus, Hotspot dann eine einzige Enttäuschung mit dem negativen Höhepunkt Wedding in Berlin.

    James Ford gibt den Sound der PSB wieder Raum zum atmen, sehr organisch und analog und auch die Orchester-Spuren fügen sich in jedem Song sehr schön und unaufdringlich ein. Tolle Produktion. Vom Sound her eine gelungene Melange aus den Frühwerks-Alben Please, Actually und dem Meisterwerk Behaviour. Ähnlich wie auf Behaviour gibt es auch auf Nonetheless nicht die Übersingle, einen richtig großen Hit werden die PSB wohl nicht mehr landen. Dafür ist das Album sehr kohärent vom ersten bis zur letzten Song, sehr fließend, sehr gut durchhörbar ohne die Skip-Taste zu betätigen. Höhepunkt des Albums ist für mich der finale Song Love is the Law. Knüpft an Frühwerks-Klassiker wie King's Cross an. Das orchestrale Outro des Songs ist zum hinknien, sehr atmosphärisch.

  • Vor 7 Monaten

    Ein sehr gelungenes Album! Ok, die Schlagerhitparade hätte nicht sein müssen, aber der Rest fügt sich sehr gut zusammen, auch wenn man hier und da in Actually- und Introspective-Gewässern gefischt hat.

  • Vor 7 Monaten

    Was sagt Altfan Heinzi Schmolke hierzu?

  • Vor 7 Monaten

    Bin seit ungefähr "Actually" ein echter Fanboy, war 1991 schon bei der ersten Tournee. Und was ich bemerkenswert finde: Seit 1987 sind die Alben mindestens solide, 99er "Nightlife" war für mich bis heute tatsächlich das schwächste. Seit "Release" (deutlich unterschätzt nach meiner Wahrnehmung) in 2002 sind die Alben aus der Kategorie "Team Maschine". So auch "Nonetheless" mit starken Songs. Mein persönlicher Favorit ist - eben weil auch anders zusammengesetzt als zB in den letzten drei Alben mit Stuart Price - "The Secret of Happiness": Melancholisch, fein  und sehr elegant produziert. Insgesamt eine prima Pop Platte und um Längen besser als manche aktuelle Veröffentlichung.

  • Vor 6 Monaten

    Nach dem insgesamt eher lauen Hotspot endlich wieder ein Volltreffer! Bis auf ein, zwei Ausnahmen sind alle Songs auskopplungswürdig. Da hat der neue Produzent ganze Arbeit geleistet. Ich habe die Herren letztes Jahr live erleben dürfen, damals natürlich noch ohne aktuelles Material. Schade eigentlich. Aber die beiden geben aktuell noch immer Vollgas. Schön, dass es sie noch gibt. Noch schöner, wenn so feine Platten bei rumkommen.