laut.de-Kritik
Die menschliche Lebenswirklichkeit als hypnotischer Klangstrudel.
Review von Toni HennigZu Beginn der 80er befindet sich die Menschen in einer ungewissen Endzeitstimmung. Vor allem die Film- und Musikwelt greift die Angst vor der nuklearen Bedrohung und das Aufkommen intelligenter Technologien klanglich und ästhetisch auf. In diese dystopische Zeit fällt der von Godfrey Reggio gedrehte Experimentalfilm "Koyaanisqatsi", der 1982 in die Kinos kommt und bei dem der Score des amerikanischen Komponisten Philip Glass eine herausragende Rolle einnimmt.
"Koyaanisqatsi" bedeutet nach einer mündlichen Überlieferung aus der Sprache der Hopi-Indianer "Leben im Ungleichgewicht". Der dialoglose Film beschäftigt sich mit den Eingriffen des Homo Sapiens in die Natur. Er endet mit einer Prophezeiung der Hopi, dass eines Tages aus einem Behälter glühend-heiße Asche auf die Erde regnet, wenn der Mensch die Ressourcen unseres Planeten ausbeutet.
Kritiker bemängeln die gewiss einfache Grundaussage des Filmes. Die rauschartige Wirkung der imposanten Bilder, für die Glass passgenau den Soundtrack komponiert hat, sucht dagegen ihresgleichen. Der Score erscheint einige Monate nach der Erstausstrahlung von "Koyaanisqatsi" 1983 auf Island Records in einer gekürzten Fassung.
Der Film beginnt zunächst mit einer meditativen Sequenz, die ein Triebwerk einer startenden Rakete zeigt, bis man nach einem Schnitt verschiedene Felsaufnahmen und die noch unberührte Natur sieht. Im dazugehörigen Titelsong wiederholt die tiefe Bassstimme von Albert De Ruiter tranceartig das Wort "Koyaanisqatsi", während orgelähnliche Klänge aus dem Keyboard eine beklemmende, subtile Spannung aufbauen und den Score dadurch glänzend einleiten.
Diese repetitiven Strukturen ordnet man in der Neuen Musik der Minimal Music zu, die Philip Glass mit seinen Kompositionen wie das Instrumentalwerk "Music In 12 Parts" (1974) und der Oper "Einstein On The Beach" (1976) entscheidend mitprägt. Geboren am 31. Januar 1937 in Baltimore als Sohn einer jüdischen Familie gilt der umtriebige und vielseitige Komponist schon früh als Genie und Wunderkind.
In den 40ern und 50er spielt er in lokalen Orchestern und eignet sich die Zwölftontechnik Arnold Schönbergs an. Anfang der 60er-Jahre wendet er sich vermehrt der modernen Kompositionsweise Aaron Copelands zu. In Paris begegnet er 1965 dem indischen Komponisten Ravi Shankar. Dieser arbeitet dort an dem Soundtrack zu "Chappaqua" und will seine Musik für die westliche Tradition nachvollziehbarer und spielbarer gestalten. Für die nötigen Transkriptionen wählt er Philip Glass aus.
Aufgrund dieser Begegnung findet Glass eine zeitgemäßere Herangehensweise für seine Kompositionen. Er erhält die nächsten Jahre Unterricht von einem Tablaspieler und schließt sich den Lehren des Buddhismus an. Die Philosophie des Dalai Lama und das asiatische Verständnis von Zeit und Rhythmus geben Glass' Werken den entscheidenden Impuls.
Seine Stücke geraten immer repetitiver. Er zählt in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre neben Terry Riley, La Monte Young und Steve Reich zu den frühen Mitbegründern der Minimal Music, die Charlemagne Palestine und John Adams in den 70ern und 80ern grundlegend bereichern. Sie stellt eine Gegenbewegung zu den aufwühlenden, seriellen Strukturen in der Neuen Musik dar.
Die Klänge zeichnen sich durch eine Bildhaftigkeit und Simplizität aus, die über die Grenzen der klassischen Musik hinausreichen. Durch die ständige Wiederholung bestimmter Grundmuster, sogenannter Patterns, und kaum wahrnehmbare, rhythmische Variationen, kommt es zum Effekt der Phasenverschiebung. Dadurch findet sich der Hörer in einem hypnotischen Klangstrudel wieder.
"Vessels" greift noch deutlicher auf diese Vorgehensweise zurück als das geheimnisvolle Titelstück. Der Track startet mit auf- und abschwellenden Chorgesängen des Western Wind Vocal Ensemble. Erst nach dreieinhalb Minuten setzen zusätzlich zu den Chören Flöten-, Klarinetten- und Saxophontöne ein. Die anschließende Keyboardsequenz lässt die Gesänge und die verschiedenen Sounds zu einem verstörenden Mahlstrom verschmelzen. Im Film bieten Industriebauten, Hochhäuser, Kriegsschauplätze und Szenen verschlungener Highways das passende visuelle Pendant.
Die opulenten Chöre hieven Glass' Kompositionen auf ein musikalisches Level, das man auf seinem Solowerk "Glassworks" (1981 die erste Aufnahme, die den US-Amerikaner außerhalb der Neuen Musik einem größeren Publikum bekannt macht) nur erahnen konnte. So erinnern die sich wiederholenden Holz- und Blechbläserarrangements an das Stück "Floe". Das Streicherarrangement von "Islands" besitzt eine kaum zu überhörende Ähnlichkeit mit der Einleitung von "Pruit Igoe" auf dem Soundtrack. Glass greift auf dem Score häufig auf frühere Kompositionstechniken zurück, formuliert sie in einem größeren Kontext dennoch neu.
Es folgt mit "Cloudscape" eine Wolkensequenz, die im Film noch vor "Vessels" auftaucht. Die sich steigernden, majestätischen Bläser erreichen hier einen intensiven Höhepunkt auf dem Soundtrack. Der helle und eindringliche Charakter des Stückes suggeriert trügerisch die Ruhe vor der nahenden Zerstörung der Natur aufgrund des menschlichen Strebens nach Macht, Territorium und Profit.
Die orchestralen Qualitäten des Komponisten treten folglich in "Pruit Igoe" mit wirbelnden Streichern auf atemberaubende Art und Weise in den Vordergrund. Mit einsetzenden hektischen Bläsern und Chören nimmt der Track eine dramatische Wendung. Als Synonym für das gescheiterte Wohnbauprojekt "Pruitt Igoe" in Missouri zeigt der Film die Sprengung einer heruntergekommenen Siedlung. Eine kurze, droneartige Sequenz rundet die Nummer wirkungsvoll ab. Mit sehr anschaulichen klanglichen Mitteln erschafft Glass ein weitläufiges Panorama, das beim Hörer auch ohne Leinwandbilder Kopfkino erzeugt.
Durch den Erfolg von "Koyaanisqatsi" eröffnen sich Glass neue Möglichkeiten, seine Musik einem popaffinen Publikum näher zu bringen, nachdem er sich mit Gelegenheitsjobs jahrelang über Wasser halten musste. Viele Filme, darunter "Kundun" (1997) und "The Truman Show" (1998), profitieren später von seinem bildhaften Kompositionsschema.
Gleichzeitig setzt sich der Brite Brian Eno mit seinen Ambient-Alben über die allgemeinen Hörgewohnheiten hinweg. Eno bekundet neben David Bowie stets seine Bewunderung für die Werke des Komponisten aus Baltimore. Wie übrigens auch Paul Simon, der bei mehreren Alben mit Glass zusammenarbeitet.
Glass seinerseits beobachtet die zeitgenössische Popmusik mit brennender Neugier und überführt die beiden Berlin-Werke Bowies und Enos, "Low" und "Heroes", 1992 und 1996 in einem symphonischen Kontext, eine Gattung die er über Jahrzehnte gemieden hatte. Für "Book Of Longing" komponiert er in Anlehnung an die Bilder und Gedichte von Leonard Cohen 2007 einen Liederzyklus.
Eine strikte Trennung zwischen E- und U-Musik gibt es für dem Ausnahmekomponisten nicht mehr. Dass die Minimal Music ähnlich der Ambient-Music heute als Gebrauchsmusik für Dokumentationen und Werbespots zum Einsatz kommt, schwebt über "Koyaanisqatsi" schon wie eine nicht allzu utopische Vorahnung. Dank Glass kann man sich das Prinzip der Repetition in der zeitgemäßen elektronischen Musik kaum noch wegdenken.
Die folgenden Szenen setzen sich schließlich mit der rasenden Verbreitung moderner Konsumgüter und Dienstleistungen nachhaltig auseinander. Die temporeichen Kamerafahrten in der langen Sequenz von "The Grid" gehören mit ihrer Darstellung unüberschaubarer Menschenmengen in Kaufhäusern und monoton verrichteter Arbeiten am Fließband zu den beeindruckendsten Momenten des gesamten Filmes. Sie porträtieren am Nachdrücklichsten unseren verschwenderischen, kapitalistischen Lebensstil und die Illusion des American Dream, der Kranken und Geringverdienenden wenig soziale und wirtschaftliche Absicherung bietet.
Das dazugehörige und einer Viertelstunde längste Stück des Soundtracks leiten schwere Bläsersätze ein. Danach versetzen mantraartige Keyboardschleifen, Holz- und Blechbläsersektionen, sowie einnehmende Chorgesänge den Hörer in Aufwühlung. Durch Intensivierung einzelner Grundmuster aufgrund ihrer ständigen Wiederholung schwingt sich "The Grid" zu einem sinnlichen Fest überwältigender Klänge auf. Die rasanten Bilder des Filmes veredelt Glass dadurch mit einer der eindrücklichsten Kompositionen der Neuen Musik.
Eine acht Minuten längere Fassung findet sich zudem auf einer Neueinspielung, die Nonesuch 1998 veröffentlicht. Sie enthält einige Stücke, die man auf der gekürzten Originalfassung des Scores nicht berücksichtigt hat. Trotzdem vermittelt die entschlackte Version des 1983er-Soundtracks den Eindruck einer zeitlosen Komposition.
In "Prophecies" trägt das Western Wind Vocal Ensemble die apokalyptische Prophezeiung mit Gesängen in der Sprache der Hopi zu düsteren Orgelklängen in die Welt. Gegen Ende greift das Stück nochmal auf das kreisende Ausgangsmotiv von "Koyaanisqatsi" mit der tiefen Bassstimme Albert De Ruiters zurück. In dem Film zerfällt die Anfangs in den Himmel steigende Rakete nach einer Explosion schließlich zu Asche und Staub. Der Kreis schließt sich.
1988 und 2002 laufen mit "Powaqqatsi" ("Leben im Wandel") und "Naqoyqatsi" ("Leben im Krieg") zwei weitere, von Godfrey Reggio visualisierte Nachfolger in den Kinos. Philip Glass steuert zu den beiden Filmen wieder die Musik bei. Die faszinierende Wirkung der Bilder von "Koyaanisqatsi" erreichen sie aber nicht mehr. "Naqoyqatsi" erweist sich mit seiner oft zusammenhangslosen Aneinanderreihung retuschierter Archivaufnahmen gar als verzichtbar.
Der Soundtrack zum letzten Teil der Quatsi-Trilogie legt den Fokus auf die symphonischen Stärken des Amerikaners und beherbergt nicht wenige hochwertige Kompositionen. Der unterschätzte Score zu "Powaqqatsi" mit seiner berauschenden Melange von Ethno- und Minimal-Music weist wegen seines optimistischeren Grundtons mehr Zugänglichkeit und zeitgenössischem Popappeal als die Filmmusik des Vorgängers auf.
Mit "Koyaanisqatsi" bringt Glass im angehenden Pop-Zeitalter seine Fähigkeiten als Komponist auf dem Punkt und in die Lebenswelt einer schnelllebigen Konsumgesellschaft. Trotz seiner Sonderstellung als genreübergreifendes Werk der Neuen Musik zieht sich weiterhin befremdliche Ungewissheit durch die mysteriösen Klänge des Scores. Die Prophezeiung der Hopi hat sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht erfüllt. Jedoch steht der Mensch neuen klimatischen Herausforderungen und politisch kaum lösbaren Brandherden gegenüber.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare
Wie es sich dafür gehört - auch der Text hat eine angemessene, epische Länge. Weniger Worte kann man dafür aber kaum finden, wenn man das Werk verstanden hat.
https://youtu.be/I9TeVdW8sYA
Endlich mal wieder ein "Meilenstein", der diesem Titel auch gerecht wird. Glass lieferte mit "Koyaanisqatsi" ein Epos von einem Filmsoundtrack ab. Bis heute werden die Kompositionen noch zitiert und verwendet (u.a. in "Watchmen"). Musik mit zeitloser Wucht.
Finds ohne Film in seiner redundanten Monotonie etwas schwer die nötige Begeisterung für diese, unter rationalen Gesichtspunkten herausragende, Platte aufzubringen.