laut.de-Kritik

Die Kanadier stellen der Menschheit ein vernichtendes Zeugnis aus.

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Verlassen steht sie in der Brandung, die wackelige Holzachterbahn mit der roten Fahne auf ihrem höchsten Punkt. Sie wirkt wie ein Relikt einer untergegangenen Zivilisation, ein Mahnmal gegen Verschwendung, Exzess und die allzu große Sorglosigkeit der Menschheit. Als würde all der Spaß irgendwann mal in den Wellen des Ozeans enden, der sich die vom Menschen geformte Erde wieder zurückholt.

In Zeiten, in denen der US-Präsident Trump vom Pariser Klimaabkommen zurücktritt und deutsche Autokonzerne im Dieselskandal versinken, zeigt das Cover des neuen Propagandhi-Albums "Victory Lap" ein makaberes Schaubild einer dystopischen Zukunft. Und die mag vielleicht gar nicht in so weiter Ferne liegen.

Genau deshalb kommt das neue Werk der Kanadier genau richtig, um den Finger mal tief in die Wunden der Gesellschaft zu drücken. Propagandhi haben sich seit ihrer Gründung 1986 von einer traditionellen Hardcore-Band zu einer echten Allround-Truppe gemausert, die auch fünf Jahre nach dem letzten Album "Failed States" wieder verschiedenste Stilrichtungen im Heavy-Bereich gekonnt vereinigen.

Das beginnt bereits mit dem Opener und Titeltrack "Victory Lap", der mit thrashigem Riff und polternden Drumrolls die Achterbahnfahrt einläutet. "Ok, sit back, relax and watch it all burn. Sänger Chris Hannah stellt der Menschheit ein vernichtendes Zeugnis aus: "The day the rapture came / A forgettable event / The clouds they opened up / And not a single person went". Die freie Marktwirtschaft bekommt ebenso ihr Fett weg wie rassistische Polizisten und die Superreichen an der Börse. Während die Humanität schwere Treffer einstecken muss, beweisen Propagandhi schon zu Anfang, warum ihnen der Stil Progressive-Hardcore anhaftet. Anstatt das verzerrte Leitmotiv in drei Minuten einfach runterzureißen, streut das Quartett etliche Riff-Variationen, Fills und Tempowechsel in den Track mit ein.

So lässt sich auch "Comply / Resist" erstmal fast anderthalb Minuten Zeit, bis das wütende Statement gegen Fremdenfeindlichkeit losbricht. Die Rechte von Eingeborenen in Kanada und den USA bleiben für Propagandhi ein relevantes Thema: "The treaties that we broke / The lands that we filched / The settlements put to the torch / The children we abused / All for your own good of course". In unserem Interview prangerte Bassist Todd Kowalski an, dass Kanadas Premierminister Justin Trudeau Ölpipelines durch indigenes Gebiet bauen wolle. Ihren Frust über die aktuelle Situation kanalisieren Propagandhi in einem brachialen Geschwindigkeitsrausch.

Mit dem melodischen "Cop Just Out Of Frame", das ein Paradebeispiel für ein auf den Punkt gebrachtes Songende bereithält, zeigt die Gruppe aus Winnipeg eindrucksvoll, welche komplexen Spielweisen sie im Repertoire hat. Generell behält das Songwriting auf "Victory Lap" ein hohes Niveau bei. Selbst bei kurz gehaltenen Brechern wie "Letters To A Young Anus" oder "Call Before You Dig" experimentieren Propagandhi mit raffinierten Intros und gewichtigen Breaks. Immer wieder durchbrechen Harmonien die aggressive Grundstimmung, was den Songs eine schon fast genre-untypische Dynamik verleiht.

Dabei lassen Propagandhi kaum ein gesellschaftliches Thema des 21. Jahrhunderts aus. In "In Flagrante Delicto" halten sie dem gläsernen Bürger den Spiegel vor und in "Tartuffe" dürfen Chauvinisten draußen bleiben, während alleinerziehende Mütter in die erste Reihe vorgeladen werden.

"Victory Lap" liefert Diskussionsmaterial für etliche WG-Abende. Sollte dieses Album einmal in der Gesprächsrunde auftauchen, dürfte das für Knistern in der Luft sorgen. Propagandhi sprechen brisante Themen an, über die es sich zu streiten lohnt. Geht man weniger verkopft an dieses Album heran und lässt die variantenreichen Songs einfach nur auf sich wirken, stellt "Victory Lap" ein spätes Jahreshighlight im Metal-Genre dar. Dafür stehen auch Perlen wie "Adventures In Zoochosis", das mit einem atmosphärischen Einstieg und mitreißender Melodik aufwartet.

Mit "Victory Lap" treffen Propagandhi den Zeitgeist auf den Punkt. Die Band, die sich seit über 30 Jahren immer wieder neu erfindet, legt auch mit diesem späten Werk die eigene Messlatte noch mal höher. Die harte Arbeit der vergangenen Jahre hat sich in diesem Album manifestiert und gibt einen positiven Ausblick darauf, was von Propagandhi noch zu erwarten ist. Diese Zukunft sieht jedenfalls rosiger aus als der salzige Achterbahnritt, den das Cover mahnend prophezeit.

Trackliste

  1. 1. Victory Lap
  2. 2. Comply / Resist
  3. 3. Cop Just Out Of Frame
  4. 4. When All Your Fears Collide
  5. 5. Letters To A Young Anus
  6. 6. Lower Order (A Good Laugh)
  7. 7. Failed Imagineer
  8. 8. Call Before You Dig
  9. 9. Nigredo
  10. 10. In Flagrante Delicto
  11. 11. Tartuffe
  12. 12. Adventures In Zoochosis

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