laut.de-Kritik
Nacktvideo killed the radio star.
Review von Philipp KauseAlpha steht bei Shenseea nicht für die Alpha-Variante von Sars-Cov-2. Obwohl dieses Debüt ohne die Coronakrise wohl früher erschienen wäre. Die fleißige Arbeiterin in Sachen Dancehall besang jahrelang Singles und Riddim Selections. Hauptsache viel. Dieses Übermaß an Output korreliert inzwischen mit sinkender Qualität. Und mit einer thematischen Verengung. Textlich geht es einzig um Sex und Beziehungsprobleme aus der Sicht eines 'Alpha'-Tiers - das sich gleichzeitig als gefügiges und passives Objekt inszeniert.
Shenseea switcht innerhalb derselben Strophe zwischen glockenheller Stimmlage und mädchenhaftem Fiepsen. Im Refrain dann der Konter als kecker, rauer Vamp, kehlig, fest und dominant. Und manchmal scheint die 25-Jährige beim Singen und Sing-Jay-Toasten ihren Spott zu unterdrücken. In diesen Momenten klingt sie abgeklärt. Oft finden Duette mit verschiedenen Kontraststimmen statt. Auf "Alpha" an Bord: Tyga (zwei Mal), 21 Savage, Beenie Man, Sean Paul und eine Frau, Megan Thee Stallion. Also bevorzugt Artists, die in den Billboard-Charts gut laufen.
Die Kollabo mit Tyga läutete den Weg der Jamaikanerin Richtung Major-Label ein, nachdem Landsmann Shaggy sie zuvor schon einmal für das Gastfeature "Supernatural" zu Interscope gelotst hatte. "Ich habe sie auf Instagram gesehen, noch vor ihrem Hit "Loodi". Ich finde, sie hat die Stimme, die richtige Arbeitseinstellung, das passende Image-Konzept. Sie ist fleißig, sie will das Ganze unbedingt. Ich liebe sie und ihr beeindruckendes Talent. Bei Interscope kenne ich jeden, seit ich dort "Hot Shot"rausbrachte, und es freut mich, dass sie dort nun unter Vertrag ist. Es war aber nicht meine Entscheidung. Ich habe zwar den Kontakt hergestellt. Aber entscheiden musste sie das selbst mit ihrem Manager Romeich", erzählt Mister 'Boombastic Fantastic Lover' im Interview.
Jener Romeich soll Tränen der Rührung vergossen haben, als "Alpha" nun final in die Streamingdienste kam. Dabei ist das nach zahlreichen Mixtapes und millionenfach geklickten Videos im Grunde kein großer Schritt. Eher im Gegenteil: Um jetzt den US-Markt zu crashen, nimmt die Longplay-Debütantin einen windelweichen und dürren Sound in Kauf, der durchweg langweilt. Kein Song hält über drei Minuten die Spannung. Fast alle Tracks durchzieht ein seltsam bohrender, subtiler Pfeifton, als wären die Aufnahmen in einer Zahnarztpraxis oder einem U-Bahnhof entstanden. Irgend etwas stimmt da nicht.
Der auf akustisch und stripped getrimmte "Hangover"-Tune sticht, nah an Folktronic, heraus. Alles andere zerfasert ins Konturlose, völlig gleichgültig, wer mit der jungen Gastgeberin am Mikro steht. Stimmlich verblassen alle, die Features bereichern so kaum. "Lying If I Call It Love ft. Sean Paul" könnte in einer überarbeiteten Fassung vielleicht noch was, zumal die Melodie schnell ins Ohr geht und dem bekannten Sean Paul-Groove entspricht. In der angelieferten Fassung jedoch verplätschert das Duett ziellos.
Den besseren Tracks lassen sich das Lutschbonbon gewordene "Deserve It" - glatt, trocken und vergänglich - sowie das sexuell und sexistisch explizite "Henkel Glue ft. Beenie Man" zurechnen. Auch "Egocentric", das "Shen Ex Anthem", "Sun Comes Up" und "Can't Anymore" kann man schon mal bis jeweils zur Hälfte hören, muss man aber nicht. Macht alles den Eindruck, als solle es so egal wie nur möglich anmuten. Halbe Tracks reichen fürs karibische DJ-Juggling.
Manches hat Potenzial, würde man es in aufgepeppte Remixes mit Bass und Biss verpacken. Denn was völlig abhanden kommt: jeglicher Vibe. Den braucht es nun mal, wenn man Reggae/Dancehall für Menschen komponiert statt für Algorithmen und fürs Anhören statt fürs Hinsehen.
Schaut man sich die Videoclips an, gewinnt man den Eindruck: Die Stücke dienen als Aufhänger für schlüpfrige Inszenierungen des willigen Weibes, das die unteren Extremitäten spreizt und mit aufreizenden Posen nicht geizt. Message: Mädels, gesteuert von ihrer "Pussy" oder "Punani", suchen stetig Sexualkontakt und wollen geliebt werden.
"My legs wide open" heißt es entsprechend in "Lick ft. Megan Thee Stallion". Im kunterbunten Video wackeln noch weitere Ladies mit ihren Gesäßen, und man darf sich angesichts des ungewohnt quirlig animierten Grafikdesigns wundern, weshalb in die Musik nicht ähnlich viel an Formen-, Farbenvielfalt und Kreativität geflossen ist. "Video Killed The Radio Star", wussten schon The Buggles.
Der holprig dargebotene Witz besteht womöglich darin, dass Shenseea, auf der vergeblichen Suche nach dem ersehnten männlichen "Dick", Kollegin Megans intime Handlungen präferiert. Wenn die Musik vom Hocker reißen würde, wäre die visuelle Umsetzung vielleicht ein Kultsong gegen Heteronormativität geworden. Zumal auf Jamaika queere Orientierung im gesellschaftlichen Mainstream auch 2022 noch verpönt bleibt. So platt wie hier dargeboten, könnte "Alpha" allenfalls der Umsatzsteigerung in Sex-Shops dienen. Eine Ode an orale Praktiken. Aufgeteilt in 14 gleich klingende Nebenbei-Dudel-Tunes. Dancehall kann eigentlich mehr.
Shenseea zieht immerhin als Speerspitze einer jungen Generation von Dancehall-Sängerinnen nach draußen, die wieder tun, was zu Shaggys Anfängen en vogue war: Hip Hop-Culture mit Dancehall zu fusionieren. Beide Genres drifteten unter dem unsichtbaren Regime von hastig produziertem Spotify-Einerlei und charakterlosem Cloud-Rap-Pop-Trap-Mischmasch ins Seichte ab. Diesem Trend zum Einheitsbrei geht "Alpha" voll auf den Leim.
Mit den ursprünglichen Genres haben die monotonen und lieblosen Kombis aus Snare Beats und Erotik-Mantren hier nichts zu tun. Aus Trap, Twerk und Deep House entlieh man die Glibber-Konsistenz der Töne und die Simplizität, leider aber weder die Coolness noch Tanzbarkeit. "Alpha" bedient die Musikalität und Klangtiefe von Callcenter-Warteschleifen. Weitere Shenseea-Banger wie "Loodi" (2016) mit Vybz Kartel oder "Nothing Dem Nah Have Ova Me" (2017) sind nicht in Sicht.
6 Kommentare mit 3 Antworten
Wer ist das? Und wenn ja, verpiss dich.
Hervorragendes Motto.
Ich bin ein Wachhundi, ich kann nicht anders.
Hundi, wau wau!
Wird bestimmt ne sehr fruchtbare Diskussion. Und kann hier ebenso stehen wie bei 9 von 10 anderen Mainstreamsängerinnen.
Einerseits machts natürlich nen großen Unterschied, ob der Pornostar/Stripper-Look den unmündig gehaltenen Mädels von nem Sony-A&R aufdiktiert wird. Und andererseits dann doch keinen. Kosmetik-, Hochglanz- und anderen vor allem auf Frauen fokussierte Selbstoptimierungsindustrien geht es - trotz (oder gerade wegen) der meisten feministischen Fortschritte - heute vermutlich besser als jemals zuvor. In der Hinsicht halt schnuppe, ob es erzwungen ist oder ein Akt der Befreiung (*hust* *hust*) sein soll. Die Dümmsten konsumieren, die Falschen profitieren.
Und sicherheitshalber noch mal direkt für die besonders Begabten (wie z.B. Theory9) erwähnt: Ein Aspekt unter vielen, und hier geht um meine Wahrnehmung, die ebenso wenig Allgemeingültigkeit hat wie die eure.
Ungehört saftige 5/5
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Also mehr Omega als Alpha, kann das?
Bleibt auch ungehört 5/5