laut.de-Kritik

Endlich macht Radio-Pop mal wieder Spaß.

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Weißes Basic-Shirt, Jeans, keine 1,60 m, aber eine energiegeladene Stimme, die in der Pop-Nachwuchs-Welt ihresgleichen sucht: das ist Sigrid. In Deutschland hatte die Norwegerin mit "Strangers" zwar erst einen ganz großen Hit. Die heute 25-Jährige macht jedoch Musik, seit sie 17 ist, und sammelte in der Zwischenzeit fleißig Platin-Auszeichnungen in ihrer Heimat und Großbritannien. Zu ihrem zweiten Studioalbum "How To Let Go" ist sie also längst kein unbeschriebenes Blatt mehr.

Den rasant angestiegenen Erfolg im jungen Alter verarbeitet sie im Opener "It Gets Dark". Es geht ums Hin- und Hergerissen sein zwischen dem einfach Leben in ihrer Heimat, dem kleinen Ålesund und dem Star-Dasein irgendwo zwischen London und Los Angeles. Das cineastische Intro baut Spannung auf, ehe der dröhnende Bass Power bringt, die Gitarre liefert im Refrain den Höhepunkt und gleichzeitig später den sanften Ausklang. Ein Song wie ein Tsunami – das perfekte Beispiel, wie man einen fesselnden Hit komponiert.

Mit ihrer besonderen Stimme hat Sigrid einen sofort gefesselt, das führt auch der sonst eher langweilige "Burning Bridges" fort. Musikalisch fällt einzig der warme Zwischenpart nach zwei Minuten auf. Inhaltlich bleibt der Track ebenfalls recht belanglos: kaputte Beziehung, schlimme Trennung und so weiter. Irgendwie persönlich, hat man aber auch schon oft gehört. Auf Spotify gibt es jedoch ein paar coole Remixe, etwa von Crush Club oder Initial Talk und eine schöne Akkustik-Version – allesamt eher zu empfehlen als das Original.

Weiter geht es mit "Risk Of Getting Hurt", das mit einem groovigen Beat und coolen Synthies überzeugt. Auch durch "Thank Me Later" wird schnell klar: der musikalische Fokus liegt bei Sigrid sehr stark auf kraftvollen Drums und dem Bass. Völlig legitim natürlich, hat ihr genau das in Form von Hits wie "Strangers" oder "Sucker Punch" den Durchbruch beschert.

Bisher haben sich starke und schwache Songs brav abgewechselt, der Rechnung zu Folge müsste jetzt eigentlich wieder ein Hochkaräter kommen. Der kommt. Und was für einer. "Mirror" ist mit Abstand der beste Track vom Album. Lässiger Disco-Beat, cleanes House-Piano, Streicher und eine wahnsinnig eingängige Melodie. Selbst sagte sie darüber: "Mirror ist eine sehr lebendige Version eines Popsongs. Die Single ist heavy. Ich liebe es, da ich den Bass in meiner Brust spüren muss, wenn ich singe."

Bei "Ich liebe es" kann ich mich direkt anschließen (Nein, keine Schleichwerbung für McDonald's). Denn auch lyrisch macht der Song ordentlich was her: "I love who I see looking at me in the mirror": In Zeiten von Body-Positivity nicht nur zeitgemäß, sondern auch eine starke Botschaft, seine eigenen Fehler zu akzeptieren. Wie viele der Tracks ist er in einer Zeit entstanden, als unser Leben durch das Corona-Virus bestimmt wurde und wir alle viel Zeit hatten, uns selbst und die letzten Jahre zu reflektieren. Diesen thematischen Dreh merkt man dem Album an, nicht zuletzt auch durch die emotionale Ballade "Last To Know" oder den Abschluss "High Note".

Auch Sigrid hatte mit einer kleinen Identitätskrise zu kämpfen, herausgegangen ist sie aus der Hochphase der Pandemie mit der Erkenntnis, dass sie ihre Brötchen bis ans Lebensende mit Musik verdienen will. Keine Einwände. Der positive Effekt davon ist der gefühlt viel selbstbewusstere Sound der neuen Platte. "Ehrlich gesagt, habe ich endlich den Mut, zu sagen, dass ich gut darin bin", sagte sie letztes Jahr. Das hat offensichtlich frische Power freigesetzt.

Schade, dass Sigrid die nicht in jedem Track unterbringt. Es folgen ein paar eher unauffällige Songs. Die angeblichen Einflüsse von Neil Young und Joni Mitchell in "Dancer" höre ich beim besten Willen nicht heraus. Auch "Bad Life" – der einzige Song mit Featuregast (Bring Me The Horizon) – fliegt eher unter dem Radar. Immerhin der Text macht hier wieder einiges wett: "It's just a bad day, not a bad life". Das sollten wir wahrscheinlich noch viel häufiger verinnerlichen.

"Mistake Like You" weicht wieder vom klassischen Pop-Akkord Muster ab und bietet ein spannendes Gitarrensolo. "Grow" beweist, dass Sigrids Stimme keine Masse an instrumentaler Begleitung braucht, um überragend zu klingen. Ein letztes Highlight bildet dann noch "A Driver Saved My Night". Die Gitarre spielt eine ungewohnte, aber interessante Melodie, der Gesang ist wie immer catchy und die leichten Disco-Vibes machen das Ganze tanzbar.

Müsste man der Platte eine Überschrift geben, wäre es wohl "Abwechslung". Auffällig ist nämlich, dass nicht nur die Platte allgemein, sondern auch die meisten Songs in sich sehr abwechslungsreich sind. Es ist fast immer Bewegung zu spüren, Instrumente fallen weg plötzlich weg, neue Sounds kommen hinzu. Auch die Produzenten seien an der Stelle gelobt.

Alles perfekt ist an "How To Let Go" sicher nicht. Sigrid vermeidet aber genau das aus, was an Pop normaler so unfassbar nervig ist – dass alles gleich klingt. Ihrem Signature-Sound bleibt sie sich stets treu, das Album ist auch jederzeit klassischer Pop. Und trotzdem zeichnet es sich durch Variation und das gewisse Etwas aus, das man nicht so schlicht beschreiben kann. Vielleicht sollte man das aber auch gar nicht. Vielleicht sollte man einfach nur zuhören und genießen – so macht Radio-Pop tatsächlich mal Spaß.

Trackliste

  1. 1. It Gets Dark
  2. 2. Burning Bridges
  3. 3. Risk Of Getting Hurt
  4. 4. Thank Me Later
  5. 5. Mirror
  6. 6. Last To Know
  7. 7. Dancer
  8. 8. A Driver Saved My Night
  9. 9. Mistake Like You
  10. 10. Bad Life
  11. 11. Grow
  12. 12. High Note

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2 Kommentare

  • Vor 2 Jahren

    "Mit ihrer besonderen Stimme"

    In guten Momenten klingt sie wie ne Mischung aus Aurora und Laura Mvula, in schlechten wie ne x-beliebige Popsängerin. Also, "besondere Stimme" ist übertrieben. Opener taugt trotzdem.

  • Vor 2 Jahren

    Sigrid hat mich überrascht. Mit ihrem ersten Album, mit ihrer Stimme. Sie kann singen. Und zwar ohne Korrektur. Das ist leider zu selten der Fall. Ist deswegen ihre Stimme besonders oder originell. Nicht wirklich, nur manchmal, aber "really good work".
    Beim ersten Album "Sucker Punch" war das genug um wirklich aufhören zu lassen. Ihre Live-Videos auf Youtube bestätigen das. Sie kann was und hat Spass daran.
    Bei diesem Album habe ich allerdings den Eindruck, dass sie in die "skandinavische Falle" tritt. Wir kennen sie nun und auch die gute Produktion ist nicht neu. Alles Profi. Aber es fehlt mir an Originalität. Die Songs sind gut bis klasse, aber es fehlt dieser Kick der überrascht und neugierig auf mehr macht.
    Es entsteht der Eindruck von ausgezeichnetem Handwerk; sonders hängen bleibt es nicht.
    Somit, ja, gutes Album und 3/5 passt im Vergleich der 4/5 des Vorgängers.
    Ich hoffe wirklich, dass fürs nächste Album ein neuer Drive kommt, sonst könnte der verdiente internationale Erfolg vorbei sein.