laut.de-Kritik
Selbst dieses große Spektakel lässt noch Wünsche offen.
Review von Philipp KauseEs gibt fünf Gesichter der Simple Minds. Auf "Live In The City Of Angels" zeigen sie drei dieser fünf Seiten. Die entscheidenden fehlen. Obwohl bei dreieinhalb Stunden Spielzeit, verteilt auf vier Scheiben, Platz genug für alles wäre. Vertreten sind Kerr & Co. hier zum Beispiel als Hit-Band, mit "Don't You Forget (About Me)", "Alive And Kicking" und "See The Lights" - Hits, die hier live fett zur Geltung kommen.
Des Weiteren sind die Simple Minds als verwaschener Mainstream verschrien – und davon ertönt auch einiges auf der ersten CD von "Live In The City Of Angels". Die Absoluten Beginner setzten der Rock-Gruppe in ihrem "Liebeslied" ein fragwürdiges Denkmal, sprechen von Simple Minds als Qual und von Liedern, "die alle gleich aussehen und zu viel Schminke nehmen, aus fünfzig Wörtern wählen um das Gleiche zu erzählen. Mit Schönheitsoperationen an digitalen Konsolen." In der Tat nutzen die Simple Minds das Keyboard - aber auch für sehr markante Klänge, die nichts mit Schönheits-OPs, sondern sogar mit Folk und schottischer Tradition zu tun haben, etwa im "Love Song" oder im einzigen vertretenen Cover "Dirty Old Town".
Kennt man die Simple Minds dagegen als kakophonische New Wave-Band der späten 70er oder als politische Protestakteure von ihrem ausgezeichneten '89er-Album "Street Fighting Years", wird man von dieser Live-Platte beinhart enttäuscht. Denn ihr Vermächtnis sparen die Simple Minds hier komplett aus. What a shame! Aber okay, es geht auch ohne. Komisch dennoch, denn der ausschweifende Konzertmitschnitt fungiert als Werkschau mit dem Anspruch eines Rückblicks aufs gesamte Schaffen.
So sehr man im Detail meckern kann: Wer jemals einen Song der Minds gut fand, kann hier blind zugreifen. Denn ihr Rezept wiederholen sie hier Song für Song, und für das Kriterium Soundqualität gebührt den Schotten hier die volle Punktzahl! Dolby Surround-Raumklang schenkt die Kollektion zwar keinen, aber doch weit überdurchschnittliche Brillanz.
Trotz der mäßig spannenden ersten Runde mit den Anspieltipps "Sense Of Discovery" und dem einst mit Herbie Hancock gemeinsam ersonnenen "Hunter And The Hunted" lohnt es sich absolut dran zu bleiben. Für eine weitere CD. Denn die Standardversion mit 26 Songs tut's gegenüber der Deluxe-Variante mit 40 Stücken auch sehr gut, und auf Scheibe 3 und 4 gedehnt klingt der Sänger dann allzu monoton.
Ohne CD 3 und 4 gehen einem das ziemlich akustisch gestaltete "Big Sleep", die Hinhör-Verstärkereffekte von "In Dreams" und der provozierend gleichmütige New Wave-Kracher "Celebrate" von 1980 verloren. "Big Sleep", die federnden Bass Drums, die klirrenden Keyboard-Töne, der raue Gesang, teils geflüstert, ein leichtes Irish/Celtic Folk-Feeling machen immerhin diesen sehr alten Tune wertvoll und beeindruckend.
CD 2 erweist sich in beiden Ausführungen als homogen und durchweg spitze. Alle Tracks zeugen von hoher Qualität, und auch unter technischen Aspekten pegelt sich alles auf einem Level ein. Alles steuern die Engineers akustisch gleichwertig aus, die Trennerpunkte zwischen den Titeln setzen sie picobello sauber. Es gibt keine endlosen Applausstrecken, die ganze Produktion wirkt sehr professionell und mit Liebe zum Detail gefeilt.
In diese zweite Scheibe mit prallen 70 Minuten erster Sahne non-stop führt mit das "Theme For Great Cities" hinein. Das Instrumental im "Miami Vice"-Stil baut Spannung auf. Das anschließende "She's A River" kann man womöglich nicht mehr originell spielen. Aber einen besonderen Touch erfährt das Lied, indem Jim Kerrs Mannschaft es zielstrebig schief performt. Mit "Walk Between Worlds" aus dem aktuellen Studioalbum beginnt eine sehr schöne Strecke. Das melodiöse "Hypnotised" profitiert davon, dass der Song halbwegs bekannt ist, noch nicht totgedudelt wurde und das Wiederhören eine Riesenfreude auslöst, 90er-Flashback. Diese langgezogene Version entführt in entspanntes, verträumtes Zuhören. Die folgenden Nummern "Someone Somewhere In Summertime" (1982) und "See The Lights" (1991) zählen zu den warmen, harmonischen Keyboard-Stücken.
Dann die Überraschung: Der '85er-Song Der rhythmisch am Funk angelehnte Titel "All The Things She Said" gehört zu den Hidden Pleasures in diesem Live-Zyklus. Die Beginner fänden den Track gewiss doof. In den USA erklomm er 1985 zu Recht die Spitzenregion der Club-Charts. In der neuen Tour-Fassung singt John Kerr ihn gemeinsam mit den Ladies Sarah Brown und Catherine Anne Davies. Zu tanzen, in Gefühlen und Momenten zu schwelgen, klappt in dieser Version sehr gut.
Spätestens ab da krallen sich die Schotten die Aufmerksamkeit der Hörer. "Dolphins", einziger platzierter Song aus dem coolen Album "Black & White 050505", schlägt wieder die elegische Spur ein. Alles weitere fließt bruchlos durch und zeigt die aktuelle Besetzung der Simple Minds als routinierte, aber inspirierte Instrumentalisten. Sie wecken Lust auf ein echtes Konzert. Was kann ein Live-Album mehr bieten, als dass man gerne dabei wäre?
Das Box-Set soll ja auch den Vorverkauf für die anstehende Tour ankurbeln. Die Tickets kommen ab dem Release-Tag der Live-CDs in den Handel. Wie der Veranstalter FKP Scorpio im PR-Text dabei auf "stylischen Art-Rock", "das elektronische Disco-Geplucker von Donna Summer", "Avantgarde", und "Ambient-Projekt" kommt, bleibt im Kontext dieser Setlist ein süßes Geheimnis.
Andere Seiten der Gruppe kommen zu kurz. Dass ausgerechnet die "Street Fighting Years" hier unter den Tisch fallen, scheint unerklärlich. Denn gerade ein Song wie "Belfast Child" aus jener LP wäre angesichts der EU/'Backstop'-Debatten um Nordirland super aktuell. Vor 30 Jahren traten die Minds mit Dudelsack und Cellistin an, mit einer Armada an Technikern und Gästen wie Lou Reed und Police-Drummer Copeland, um ein aufwändiges Konzeptalbum voller politischer Songs zu machen. "Street Fighting Years", das Monument dieser Band, das der verglühten Punkbewegung im neoliberalen Thatcher-Großbritannien nachtrauert - sie schweigen es hier tot. In Zeiten von Gelbwesten, "WeAct", "Change.org", Fridays For Future, Brexit-Votum und mehr wäre "Street Fighting" das sinnfällige Thema unserer Zeit. Trotz dieser Ignoranz, Daumen hoch fürs perfekte Handwerk!
1 Kommentar
Anscheinend wurde hier die DVD rezensiert. Die CD enttäuscht nämlich mit ausgeblendeten Liedern. Da kommen keine Konzertgefühle auf.