laut.de-Kritik
Sanfte Überraschung: Indie-Folk küsst Electronica.
Review von Johannes JimenoMit dem Debüt "Tremors" zum neuen Indietronica-Wunderkind aufgestiegen, auf "Rennen" trotz einiger Fillersongs stark nachgelegt. Nun geht die Reise Sohns doch sicherlich exaltierter weiter, oder nicht? Noch mehr Avantgarde, vertracktere Songstrukturen und alle Drum-Machines ausreizend? Quasi ein introvertierter Bon Iver? Oder ein extrovertierter James Blake?
Wer "Trust" das erste Mal hört, dürfte überrascht sein. Sohn zieht andere Register und schöpft aus der Ruhe die nötige Kraft. Ein introvertiertes Album voller schöner Momente, die seine nachdenkliche Seite unterstreicht. Stellte er seine Musik bisher wie eine Vernissage in der Großstadt aus, lädt er nun zu einem entspannten Plausch in sein Landhaus ein.
Bevor es soweit ist, geleitet uns der Wahlösterreicher musikalisch gekonnt durch karge Landschaften, die eine kühle, wenngleich gemütliche Stimmung hervorruft. "Antigravity" beruhigt mit sanftem Gesang, galoppierenden Bässen und weichen Synthies. Die Tür zu seinem Zuhause macht uns "Figureskating, Neusiedlersee" auf, bei dem sich ein Saxophon in den Track schleicht und wehmütige Zeilen von einer gescheiterten Beziehung künden: "And you crossed your heart and you traced it twice / There's a crack in the ice where I skated your name".
Im Handumdrehen sitzen wir mit ihm am Lagerfeuer und er erzählt Geschichten über Liebeskummer und Sehnsüchte. Sohn channelt seinen inneren Singer-Songwriter mehr denn je und bedient sich dabei am Indie-Folk. Eine clevere Wahl, da er nicht in belanglosen Pop abrutscht und es immer etwas Liebenswürdiges ausstrahlt. Die Piano-Ballade "I Won't" und das genügsame, leicht stampfende "Riverbank" präsentieren genau diese Façon. Beide Songs klingen, als hätte er Unplugged-Versionen seiner früheren Songs produziert.
Im Neo-R'n'B-Slowburner "Truce" thematisiert er eine toxische Beziehung und möchte nicht mehr streiten. Die berührende Liebeserklärung "Station" geht als Sad-Downtempo-Electro durch, sensibel und wohltuend inszeniert. "Basis" wühlt ein wenig mehr in der Geräuschkiste und zückt nach einem ruhigen, sich sukzessive aufbauenden Ambient verzerrte Stimmfetzen und lässt sie durch den Raum fliegen.
"Trust" beinhaltet zwei große Highlights: "Life Behind Glass" umgarnt mit brüchiger Stimme im Halb-Falsett über klassischem Schlagzeugbeat, erneut tänzeln Saxophone umher und stark verzerrte Vocals bilden eine pittoreske Jamsession, die einen gewissen Jazz-Charakter trägt. Unwiderstehlich! Das den Chorus vorwegnehmende Interlude "Montardit" leitet in "Segre" ein, dem klassischen Sohn-Song, den die Fans im Vorfeld in dieser Art erwarteten. Leicht wehmütige und verträumte Hipster-Electronica mit poppigem Anstrich, die unverschämt ins Ohr geht und sein Händchen für eingängige Melodien demonstriert.
Das schroffe "M.I.A." darf nicht unerwähnt bleiben, weil es mit harten Drums und rastlosen Synthie-Sounds einen Kontrast zum Rest des Album bildet. Vor allem der Industrial-Refrain bringt weitere Abwechslung ins Geschehen. Mit dem unaufdringlichen Pianostück "Caravel" verabschiedet sich unser Gastgeber. Der 40-minütige Ausflug lohnt sich in jedem Fall, da Sohn wider der allgemeinen Erwartungshaltung einige Gänge zurückschaltet, sein Talent weiter schärft und uns für den Herbst eine musikalische Umarmung mitgibt. Auf "Trust" küsst Indie-Folk Electronica und transformiert das einstige Wunderkind in einen feingeistigen Künstler.
Die LP- und CD-Veröffentlichung folgt am 4. November 2022.
2 Kommentare
gefällt erstaunlich gut.
Beim ersten Durchlauf eines Albums mehrfach heulen stand nicht auf der Liste von Dingen, die ich 2022 noch erledigen wollte.
Naja, 5/5