laut.de-Kritik
Diese Himmelfahrt verlangt viel Geduld.
Review von Rinko Heidrich"Jesus würde sich schämen", wütete der eigentlich stille Sufjan Stevens schon vor zwei Jahren auf seinem Blog über die menschenverachtende Einwanderungspolitik der US-Regierung. Er glaubt an die christlichen Werte wie Nächstenliebe, mit denen er sich immer wieder auf seinen Alben auseinandersetzt und die sich doch stark von der Linie der klerikalen Hardliner unterscheidet.
Sein allmächtiges Wesen liebt alle Lebewesen und bevorzugt keine politische Agenda, erst recht nicht die von Donald Trump. Die Bibel bleibt trotzdem seine Inspiration, auch neuere Songs wie der "Call Me By Your Name"-Soundtrack-Beitrag "Mystery Of Love" beschreiben die Errettung durch die Liebe des Herrn. Die sucht man in diesem Jahr der Plagen eher vergeblich. Die letzten Monate muten eher wie die Prüfung des Hiob aus dem Alten Testament an, dem gottestreuen Unglückseligen, dem Gott ständige Pein beschert.
Doch Sufjan gibt nicht dem Allmächtigen die Schuld an dem Dilemma, sondern kritisiert Götzen wie die amerikanische Kultur. Dieser große Mythos mit seinen Werten und Versprechungen, an den sich eine ganze Nation klammert und der doch immer mehr zu einem Lippenbekenntnis verkommt. "Ich schäme mich, zuzugeben, dass ich nicht mehr an dich glaube", singt der Zweifler im langen, elegischen "America", einem transzendenten Ambient-Folk-Stück, das klar macht, was sich andeutete: Folk-Sufjan ist wieder vorbei, das Pendel schwingt wie auf "Age Of Adz" zurück in Richtung Electronica.
Stets konstant wie die Stilwechsel auf den letzten Alben bleibt natürlich der leise Sprechgesang, der sibyllinisch Texte über die fragilen Songs nahezu hinweghaucht. Wen meint der rätselhafte Songwriter eigentlich genau, wenn er "a sign of the flood or one more disaster / Don't do to me what you did to America" singt? Die Interpretation lässt den sehr weltlichen Donald Trump und den strafenden Herrgott zu. "America" wurde noch vor der Wahl des orangefarbigen PotUS und seiner "Make America Great Again"-Kampagne geschrieben, wirkt aber wie eine Prophezeiung auf die kommenden düsteren Jahre.
Der Mann, der einmal mit großer Euphorie Bundesstaaten wie "Michigan" und "Illinois" besang, verliert seinen Glauben und hofft doch noch auf ein gutes Ende wie in "Die Happy": ein choraler Gesang, über den Sufjan das Mantra "I Wanna Die Happy" fleht. Immer und immer wieder. Intensive sechs Minuten dauert diese Meditation. Sehr nah an Thom Yorke und seinen avantgardistischen Breakbeat-Collagen.
Das nachfolgende "Ativan" radikalisiert den IDM-Sound so sehr, dass sogar Aphex Twin oder Arca als Referenz taugen. Auch wenn manchmal der Eindruck von Chaos entsteht, fragmentiert Sufjan seine Sound-Cluster und lässt sie in sphärischer Erlösung ausklingen.
Die muss man in den langen 81 Minuten erst schrittweise erlernen. Der Aufstieg ins Himmelreich verlangt Aufmerksamkeit und auch Geduld. So läuft der transformative Weg zur großen Erkenntnis eben, egal ob man nun Buddha, Jesus oder Luke Skywalker heißt. Wer schon beim enervierend langen Intro zu "Sugar" aufgibt, wird wahrscheinlich nicht das Paradies geschenkt bekommen. Noch viel lernen du musst, unerfahrener Musikhörer. "The Ascension" als schnelles To Go-Album für den an Stress und Hektik gewohnten Menschen funktioniert nicht. Klangschalen-Esoterik oder ein blubberndes Nichts wie das letzte Four Tet-Album muss man dafür nicht erleiden.
Immerhin "Video Game" kommt der Idee eines einfacheren Pop-Songs noch am nächsten. Ein fast schon tanzbares Stück, für dessen visuelle Gestaltung Sufjan eine 14-jährige Social Media-Berühmtheit gewann. Seine Muse fand er ausgerechnet auf TikTok, einer Plattform, die gefühlt täglich neue Idole generiert und sie auch schnell wieder fallen lässt. Jalaiah Harmon, so der Name der Tänzerin, hat im Schnelldurchlauf gemerkt, wie ein von ihr entworfener Tanz einfach übernommen und ohne Credit von anderen Influencern kopiert wurde.
Heraus kommt ein großartiger paradoxer Moment. Die millionenfach gelikte Internet-Sensation tanzt zu Lyrics wie "I don't wanna be your personal Jesus / I don't wanna live inside of that flame / In a way I wanna be my own believer" oder, wie Sufjan in einem Statement noch einmal präzisierte: "Die wichtigste Erkenntnis von 'Video Games' ist für mich: Dein Wert sollte niemals auf der Zustimmung anderer Menschen beruhen." Amen.
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