laut.de-Kritik

Die Erfindung des Psychobilly mit Sex, Horror und Humor.

Review von

Sacramento 1972: Die 19-jährige College-Studentin Kristy Marlana Wallace steht unter der glühenden Sonne Kaliforniens am Rand eines staubigen Highways. Vom Horizont braust der etwas ältere Erick Lee Purkhiser in einer ebenso heruntergekommen wie stilechten Limousine heran und gabelt sie auf. Ein Augenblick, der Geschichte macht. Es ist der Beginn einer großen, romantischen Liebe, die fast 40 Jahre anhält. Nebenbei gründet das Paar als Poison Ivy Rorschach und Lux Interior die Cramps, stellt die Rockwelt auf den Kopf und erfindet mit "Songs The Lord Taught Us" Psychobilly/Gothabilly.

Wer Cramps sagt, muss auch CBGB sagen. Neben den Ramones, Talking Heads, Television, Patti Smith Group und Blondie waren sie einer der legendären Acts, die dieser Club hervorbrachte. Dort schärfen sie mit zahllosen Auftritten ab 1976 ihr unnachahmliches Profil, das im Frühjahr 1980 auf dem vorliegenden Meilenstein kulminiert. Die Mischung ist dermaßen abgedreht, dass sogar obige Kollegen im Vergleich nahezu konventionell wirken. Ihre Grundierung besteht aus Rock'n'Roll, Rockabilly und Blues. Unüberhörbar stehen Vorbilder wie Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Ricky Nelson Pate.

Statt einer Retro-Hommage erschaffen The Cramps jedoch ihr eigenes Universum. Pfeilschnelle Punkgeschwindigkeit, bis zum Anschlag verzerrte Fuzz-Gitarren, Garage-Rock, Surfrock und derbe Low-Fi-Ästhetik verschmelzen zum farbenfrohen Paradoxon aus Tradition und Innovation. Ihre Texte handeln von Sex, B-Movie-Horror, Sci-Fi-Stories plus allerlei surrealen Absurditäten. Alles garniert mit spielerischem S&M, Lack & Leder, Bondage, Comicstrip-Übertreibung und tonnenweise Humor voll herzerfrischender Selbstironie.

Um sich für die Aufnahmen zu dieser Platte in Stimmung zu bringen, legen sie als erste Band überhaupt einen Gig in einer geschlossenen Nervenheilanstalt, dem Napa Mental Hospital, hin. Dort spielen sie mit "TV Set", "Mystery Plane" und "What's Behind The Mask" bereits drei Nummern dieser LP. Lux: "Man sagte mir, dass ihr verrückt seid. Aber ihr kommt mir ganz normal vor."

Der Geist dieses Konzerts manifestiert sich recht deutlich auf "Songs The Lord Taught Us". Poison Ivy, privat eher die Sorte Kumpel von nebenan, mutiert als Leadgitarristin zum spärlich bekleideten Vamp. Lux, jenseits der Bühne ein zurückhaltender Gentleman, der stets betont leise spricht, mutiert im Studio und on stage zum ebenso manischen wie animalischen Rock-Ungeheuer von der Schwarzlederlagune. Live und bei Sessions geht er oft auf Stiletto-Pumps, mit denen er sich lasziv wie ein Tänzer bewegte.

All diesen wundervoll exotischen, sexy Irrsinn transportieren sie unverfälscht auf diesen dreizehn Liedern. Besonderen Charme strahlt dabei des Sängers konstanter Wechsel vom noblem Zeremonienmeister zum energetischen Tier aus. "TV Set" etwa beginnt relativ normal. Im Verlauf steigern sich die Vocals jedoch zum besessenen Vortrag eines Getriebenen. Kein Wunder, handelt da Stück doch von einem Serienkiller Marke Ed Gein. Der von Napa-Gig inspirierte "Mad Daddy" krönt die Verwandlung mit etlichen "Oooh-mamamas" und "Aaaaahahas" zum puren Rock-Schamanismus.

Mit deutlich sexueller Konnotation illustriert "I Was A Teenage Werewolf" die Verwandlung Rorschach/Interiors, die sämtliche Eigenkompositionen der Cramps als Duo schreiben. 30 Jahre lang bleiben die beiden die einzig konstanten Mitglieder. Als besondere Favoriten und Kultsongs etablieren sich von dieser Scheibe "Sunglasses After Dark" und der "Garbageman". Ersteres illustriert, welch abgedreht orgiastische Live-Energie ihre Shows verströmten. Letzterer war eines der ersten MTV-Rotation-Videos. Interior spielt eine Art Punkpriester, dessen Predigt die Faker vom Real Thing trennt wie Spreu vom Weizen. Wer echter Rock'n'Roll sein will, darf keine Angst vor etwas Dreck verspüren. "Now do you understand? Do you understand? I'm a garbageman!"

Während diese vom Herrn gesandten Lieder im damaligen Tempel der Popkultur – London – hervorragend ankamen und die Spitze der Indie-Charts erklomm, reagierte ausgerechnet ihre amerikanische Heimat jenseits der Metropolen New York und L.A. zunächst eher reserviert. Die ungezügelte Lebensfreude kombiniert mit libertinistischem Eros verstörte einen Mainstream, der sich in jenen Tagen lieber dem braven Schwiegermutterliebling Shakin' Stevens zuwand.

Aufhaltbar war ihr Einfluss gleichwohl nicht. Iggy Pop, The Jesus And Mary Chain, Queens Of The Stone Age, Monster Magnet, Muse oder Jack White zählen zu ihren zahlreichen Bewunderern. Weder Horrorpunk, noch Death Rock oder das massentaugliche Rockabilly-Revival um die Stray Cats wäre ohne die Cramps denkbar. Mit der unwiderstehlich betitelten Hitsingle "Bikini Girls With Machine Guns" bringen sie zehn Jahre später alles hier entstandene noch einmal auf den Punkt.

Doch keine Party währt ewig. Am 4. Februar 2009 verstirbt Lux nach einem schweren Herzinfarkt. Mit ihrer großen Liebe trug Kristy Wallace auch die Cramps zu Grabe. Getreu beider Künstlernamen konnte es musikalisch kein Giftefeu ohne Licht geben. Zurückgezogen lebt sie in Kalifornien und schrieb seit dem Tod ihres Mannes nie wieder einen Song.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. TV Set
  2. 2. Rock On The Moon
  3. 3. Garbageman
  4. 4. I Was A Teenage Werewolf
  5. 5. Sunglasses After Dark
  6. 6. The Mad Daddy
  7. 7. Mystery Plane
  8. 8. Zombie Dance
  9. 9. What's Behind The Mask
  10. 10. Strychnine
  11. 11. I'm Cramped
  12. 12. Tear It Up
  13. 13. Fever

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Cramps – Songs the Lord Taught Us €20,59 €3,00 €23,59

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT The Cramps

The Cramps waren eine Band, wie sie nur aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten kommen kann. Ausgestattet mit einem Faible für die Pop-Kultur der …

3 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    "Weder Horrorpunk, noch Death Rock oder das massentaugliche Rockabilly-Revival um die Stray Cats wäre ohne die Cramps denkbar."

    Na, wir wollen mal nicht gleich übertreiben: Die Misfits gab es zeitgleich auch noch. Ansonsten natürlich trotzdem ein Klassiker.

  • Vor 5 Jahren

    Endlich!!!!
    Danke Ulf für den Meilenstein!!!
    Mein Favorit auf der Scheibe ist aber schon immer "Tear it up!!! Da brennt der Rock'n roll Baum!!! Da verkriecht sich
    der unsägliche "Ersatz Elvis" der 80er(Shakin Stevens)
    zurück in seine Langeweiler Heimat!!! Da hätte selbst Elvis seinen Spaß gehabt....
    Sorry ich schweife ab, toller Stein Das hier...Weiter so,
    und denk mal wieder an den Gun Club Ulf.
    Grüße Freddie

  • Vor 5 Jahren

    Mein CRAMPS Highlight ist "A Date with Elvis". War mein erstes Album von ihnen. Hab sie in der Münchner Theaterfabrik zur Stay Sick! Tour gesehen. Werde nie vergessen, wie Lux auf den Balkon geklettert ist und ich sehe heute noch Poison Ivy auf der Bühne stehen ♥. Das letzte Konzert dann glaub ich im Feierwerk, aber da war Lux schon extrem angeschlagen.
    War hier auch jemand dabei? Wahrscheinlich nicht, oder? Bin halt schon ein Fossil ;-)

    • Vor 5 Jahren

      ich habe sie auf der letzten tour gesehen und anno 1998 und dort auch backstage getroffen. das war ein unvergessliches erlebnis, weil beide so sympathisch - gleichzweitig würdevoll und knuffig - waren. ganz großes charisma und talent mit warmherzigem charakter.

    • Vor 5 Jahren

      Freut mich riesig, dass du sie so sympatisch fandest. Das untermauert meinen Eindruck von ihnen. Kannte sie ja nur auf und nicht hinter der Bühne. Und danke für den tollen Meilenstein nebst Artikel.
      Ähnlich herrlich schnoddrig und vollkommen frei von Allüren waren damals Alien Sex Fiend.