laut.de-Kritik
Nach Jahren der Absenz: eine körperliche Erfahrung.
Review von Hannes WesselkämperEin Jahrzehnt ist vergangen, seitdem das schwedische Geschwisterduo Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer in die öffentliche Aufmerksamkeit rückte. Die eigenwillige und ebenso eingängige Single "Pass This On" auf dem The Knife-Zweitling "Deep Cuts" sorgte für offene Ohren und ebnete auch dem Nachfolger "Silent Shout" den Weg zu modernen Klassikern des Genres.
Nur - welches Genre? Von Beginn an gestaltet sich das ästhetische Programm der Schweden als ein Irrgarten moderner Tanzmusik. Den Pop nie aus den Augen verlierend, windet sich ihre Musik durch exotische Klänge, Orgien des Verzerrens und, als eine Art beweglicher Mittelpunkt, Karins Gesang. Teils markerschütternd grell, teils aus den Tiefen einer Ursuppe geboren, weist sie die Richtung durch das dauerbewegliche The Knife-Universum.
Einen Großteil der vergangenen Dekade jedoch verbringt das Duo im Dasein als Mythos. In Anbetracht von Livegigs im Dunkeln oder hinter Schnabelmasken und kultischen Gegenständen versteckt, erscheint die siebenjährige Pause, in der sie lediglich den weniger beachteten Soundtrack zu einer Charles Darwin-Oper veröffentlichten, als dramaturgisch präzise einstudiert und logisch nachvollziehbar.
"Shaking The Habitual" ist nun keineswegs regulierendes Ventil angesammelter kreativer Energie – das Ventil ist mit Veröffentlichung des Albums explodiert. Ungeordnet und wild bricht es über 96 Minuten aus den beiden Schweden heraus. Ihre vierte LP ist weder Rückschau noch Verwaschen des eigenen Stils, sie ist ein musikalisches Surplus, die komplette Überforderung.
Zwischen hektischen Percussion-Orgien, geradlinigem Techno-Pop und darbenden Noise-Flächen, gerät "Shaking The Habitual" zur körperlichen Erfahrung. Orientierung bieten lediglich die Gesangsparts Anderssons in Momenten der Ordnung wie sie in "Without You My Life Would Be Boring" oder "Raging Lung" zu finden sind. Auch das Schlussstück "Ready To Lose", das beizeiten an das Fever Ray-Album der Sängerin erinnert, fällt in diese Sparte.
Dem ungeordneten Überfluss steht das Zentrum des Albums, "Old Dreams Waiting To Be Realized", antithetisch gegenüber. Mit 19 Minuten macht dieses Kernstück mit dem programmatischen Titel ein Fünftel der Gesamtlaufzeit aus, gestaltet sich aber durch absoluten Minimalismus.
Es ist ein klanglicher Ausflug in genau jene oben genannte Ursuppe, in der die alten Träume vor sich hin köcheln. Ohne bestimmte Form wabern sie im Unbewussten gleich der im Track transportierten Klangwelt. Frei jeder Ordnung ergießen sich gedehnte Töne verschiedener Höhe und Färbung ineinander, befreien sich, driften auseinander. Kurze Rhythmuspassagen erweitern den freien Flug, um dann wieder ins Nichts zu verfallen.
Auf einer Ebene, die weit über den in The Knife-Kontext allzu oft beschriebenen Elementen von 'Mut' oder 'Provokation' liegen, nehmen Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer ihre lange Absenz selbst als musikalisches Programm. "Shaking The Habitual" ist, von wilder Unordnung und Gegensätzen geprägt, ein direktes Gleichnis des kreativen Schaffens: anstrengend, ohne feste Gesetze und mit brillanten Momenten der Klarheit.
5 Kommentare
Mit anderen Worten: Mindfuck.
Hab am Wochenende das Album ein paar mal durchlaufen lassen und man muss sich echt reinhören. Meine Nachbarn denken jetzt glaube ich, dass ich einen Vollschaden habe bzw. unter lustigen Drogen stehe. 'Old dreams waiting to be realize' is ambient, kann man sich nicht bewusst anhören.
hmm. Ich hätte mir vielleicht ein bißchen mehr Zeit für die Review gelassen. Gerade, weil man sich hier wirklich reinhören muss. Würde dementsprechend auch die Höchstwertung zücken. Old dreams gehört imo zu den fünf besten Tracks des Albums. Die Review ist dann aber doch ganz gut geworden.
Letzte Woche als "Vorbereitung" nochmal 'Silent Shout' gehoert und fand es doch sehr schwer, da ganz durchzukommen. Und jetzt 96 Minuten? Ihre stimmverzerrte Stimme finde ich total geil, mit dem Daemon wuerde ich sofort schlafen.
Was ich gerne hoeren wuerde: ein Kollaboalbum von Karin und Scott Walker.
Ganz große Kunst. Klingt nicht überambitioniert, sondern einfach experientell. The Knife haben jetzt schon eines der wichtigsten Alben des Jahres abgeliefert, das sehr viele Menschen nicht verstehen werden, obwohl ich es nicht verkopft nennen würde, im Gegenteil: es ist sehr emotional und intuitiv geworden. Ganz klar Höchstwertung.
Langweilig. Ausser 'Full Of Fire' und 'Raging Lung' nix, was mich gehalten hat. Und was dann 'Old Dreams Waiting To Be Realized' soll, nach 5 Minuten habe ich vorgespult, um zu schauen, ob da doch noch ein Moment kommt, der sich lohnt, aber wahrscheinlich ist selbst die miserabelste CMI-Veroeffentlichung noch spannender als das. Gerade zielloser Ambient ist Musik, die keiner mehr braucht. Schade finde ich auch, dass der Gesang oft im Mix so untergeht, weil gerade diese Stimme doch ein essentieller Teil dieser Musik ist.