laut.de-Kritik

Gefangen in der Holy Church Of Evan Dando.

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An Evan Dando ist mit Sicherheit ein Plattenhändler verloren gegangen. Einer dieser spleenigen Musiknerds wie man sie aus Nick Hornbys "High Fidelity" kennt, die Augenbrauen hochgezogen, sobald jemand nicht auf Anhieb alle Beatles-Alben mit ihrem Erscheinungsjahr in chronologischer Reihenfolge aufsagen kann. Einer, der alles besser weiß und sein Wissen nur an guten Tagen mit anderen teilt, an schlechten die Kundschaft ignoriert und lieber selbst auf der Akustischen vor sich hinfidelt. Eigentlich würde man ja selbst als Musiker durchs Land ziehen, aber es gibt noch ein paar Dinge zu erledigen und daher passe das mit dem Plattenladen gerade ganz gut.

Es fällt nicht schwer, sich Dando in diese Szenerie hineinzudenken. Vor allem nicht, wenn man ihn kürzlich live erlebt hat, denn seine Lemonheads-Shows führten in verschiedenen Städten dazu, dass Menschen vorzeitig den Saal verließen. Die Gründe sind vielschichtig, aber grundsätzlich könnte man sagen, dass es zwischen Dando und Teilen seines Publikums unterschiedliche Auffassungen darüber gab, welche Dienstleistung ein Musiker auf der Bühne zu erbringen hat.

Dabei ist im Jahr 2025 wirklich nicht auf Anhieb klar, was verwunderlicher ist: Dass Vinyl noch lebt oder eben Dando. Er ist jetzt 58 und damit so alt wie Kurt Cobain heute wäre, in dessen Windschatten die Lemonheads-Karriere in den frühen 90ern an Fahrt aufnahm. In seiner parallel zu "Love Chant" erscheinenden Autobiografie "Rumours Of My Demise: A Memoir" erinnert er sich an einen Abend in einem Londoner Club 1990, wo er zum ersten Mal Nirvanas "Sliver" hörte: "Shit, I thought, is that me? It sounded like me, only better. I heard that song and I knew the Lemonheads were going to be fine because my kind of music was suddenly going to be popular."

Zu einer ähnlichen Erkenntnis dürften die meisten Konzertbesucher*innen beim ersten Hören von "Love Chant" kommen: It sounds like Dando, only better. Melodieselig wie eine der von ihm verehrten Power-Pop-Bands aus den 60ern empfängt er in "58 Second Song", dessen Titelwahl sich nur Dando erschließt. Für uns wichtig: Keine Spur von falscher Intonation oder Tonartproblemen weit und breit. Zu seiner tiefergelegten Kaminsims-Stimme gesellt sich bald eine Frau, wenn auch nicht die, auf die hier alle warten, aber man vermisst Juliana Hatfield nicht, denn Erin Rae, Folksängerin aus Nashville, hievt die Nummer ebenso elegant aufs nächste Level. Lediglich bei der Zeile "An eye for an eye and a tooth for a tooth" bleibt man als Nick Cave-Afficionado eine Weile hängen, zu eindringlich ist die alttestamentarische Zeile nun mal mit "The Mercy Seat" verwoben, zumal Dando "tooth" natürlich auch auf "truth" reimt.

Hatfield ist danach in "Deep End" dran und teilt sich den Gastspot mit J Mascis, der dem minimalistisch-kantigen Rocksong wieder seinen unnachahmlichen Fuzz-Drive verleiht. Hier lässt aber vor allem Dando all seine Klasse aufblitzen: Mit nur drei Akkorden und einer exorbitant unaufregenden Riff-Abfolge kreiert er einen mitreißendsten Garage-Rocker, der an die Zeit vor den kommerziellen 90er Großtaten "It's A Shame About Ray" und "Come On Feel The Lemonheads" erinnert.

Ansonsten ist der große Bruder von "Love Chant" aber das sträflich übersehene 2006er Album "The Lemonheads", das trotz Wumms der Ex-Descendents-Männer Karl Alvarez und Bill Stevenson und grandioser Hitdichte seinerzeit komplett unterging. Irgendwie verständlich, dass Dando danach nur noch Bock auf leidlich aufregende Coveralben hatte ("Varshons", "Varshons 2"). "I haven't written a song in one night for quite some time / All my life I've been worried I would die", bringt er in "Cell Phone Blues" eine von vielen Erklärungen zu Gehör.

Mit dem brasilianischen Multiinstrumentalisten Apollo Nove versammelte er in seiner Wahlheimat São Paulo vertraute und neue Gesichter um sich und beteiligte sie so ausgiebig am Songwriting, dass nur drei von elf Songs komplett auf ihn zurückgehen. Dandos Core-Band bestehend aus Gitarrist Farley Glavin und Drummer John Kent hält das Energielevel weiter hoch, "In The Margin" vertraut im Gegensatz zu "Deep End" aber wieder auf einen shiny happy Refrain: "I'll be out here if you need to find me / I'd rather die than let your thoughts confine me."

"Wild Thing" ist kein Cover der Troggs, doch die Titelwahl dürfte kein Zufall sein, denn in den Strophen bedient sich Dando doch recht auffällig bei den Refrainakkorden der 60s-Nummer. Die sind aber so gut in den Song verwoben, dass es wohl niemandem aufgefallen wäre, hätte er den Song anders benannt. Als Co-Autoren sind hier Jody Porter und Adam Green gelistet.

Eine Verschnaufpause gewährt "Be-In", einer dieser intimen Indie-Pop-Momente mit cleanen Chords, das er später in "Togetherness Is All I'm After" noch toppt. Geschrieben mit dem Ur-Drummer John Strohm, der zuletzt auf "Car Button Cloth" zu hören war, lässt Dando uns an einer seiner melancholischen Großtaten teilhaben, und schaut mit seinem alten High-School-Freund auf rund 40 gemeinsame Jahre zurück. Lebenslektionen mit Evan. Eine Zeile wie "The strategy of life is that it's gone before you know it" würde man nicht vielen durchgehen lassen, aber im Wissen um Dandos Vergangenheit erhält der zwischen Nostalgie und Wehmut pendelnde Song zusätzliches Gewicht.

Einzig "Marauders" klingt etwas unausgegoren und überraschend höhepunktfrei, die fantastische 2023er Single "Fear Of Living" ließ er einfach außen vor. Dafür bewirbt sich der Titeltrack wie ein nie endendes Mantra um die Aufnahme in die sektenartige Vereinigung der Holy Church Of Evan Dando. "Tell 'em the way I feel, oh yeah, I feel": Mehr Worte gibt es hier auf drei Minuten nicht zu sagen. Und warum auch? Fühlt das, was der Meister fühlt oder verzieht euch!

Die Qualität eines Albums definiert sich maßgeblich über den Schlusstrack und die Atmosphäre, die dieser entweder aufnimmt und verstärkt oder in eine andere Richtung lenkt, das muss man einem Checker wie Dando natürlich nicht erklären. So wirkt "Roky" wie ein definitives Statement zu dem Club, dem sich Dando seit seiner Jugend angehörig fühlt.

Geschrieben am Todestag von Roky Erickson im Jahr 2019 setzt der Song keine hochtrabenden Akzente, sondern lebt von der Kooperation mit Stargast Nick Saloman, der ebenfalls Club-Mitglied ist. Den 72-jährigen Chef von Dandos geliebter Bevis Frond musste er gewiss nicht lange überreden, ein Loblied auf den ewigen Psychedelic-König Roky und dessen 13th Floor Elevators zu singen.

Und wie sagte er es kurz zuvor noch in dem hier sträflicherweise mit keiner Silbe erwähnten, elegischen "The Key Of Victory": "I'm livin' in the key / I'm livin' in the key / I'm livin' anarchy of victory." Von der Lüge zu Beginn ("58 Second Song") bis zur finalen Wahrhaftigkeit ("Roky"): "Love Chant" handelt in erster Linie vom Überleben in einer seit den 90ern völlig veränderten Gesellschaft. Wie genau er das geschafft oder warum er überhaupt noch dabei ist, weiß Evan Dando selbst am wenigsten, wie er in seinem Buch glaubwürdig darlegt. Dass er im Studio noch zu so einem faszinierenden Lemonheads-Kapitel imstande ist, dürfte auch seine treuesten Fans überraschen.

Trackliste

  1. 1. 58 Second Song
  2. 2. Deep End
  3. 3. In The Margin
  4. 4. Wild Thing
  5. 5. Be-In
  6. 6. Cell Phone Blues
  7. 7. Togetherness Is All I'm After
  8. 8. Marauders
  9. 9. Love Chant
  10. 10. The Key Of Victory
  11. 11. Roky

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