laut.de-Kritik
So muss Live-Musik.
Review von Alex KlugEine der unweigerlichen Folgen des Prinzips Lockdown ist die darauffolgende Release-Flut. Gut anderthalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie lernen wir nun aber, dass es sich dabei nicht einfach nur um Studioalben und EPs handeln muss, die daheim im einsamen Selbstisolationskämmerlein entstanden sind. Nein, aktuell ist es an der Zeit, die in Wohnzimmern der ganzen Welt beliebten Streaming-Konzerte physikalisch zu recyceln. Klingt nach Cashcow-Aktionismus? Muss es nicht.
Denn wenn man es nicht unbedingt mit "Once in a lifetime und dann auch wirklich never again"-Streaming-Versprechen versucht (danke, Nick Cave!), können dabei wirklich ansprechende Werke herumkommen. The Ocean schlagen mit "Phanerozoic Live" sogar gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Nicht nur, dass sie mit der Livedarbietung der letzten beiden Alben auf 3 LPs zusammenbringen, was zusammengehört – auch können sich Post-Metal-Fans bei Band- und Labelchef Robin Staps wie immer auf ein wertiges Produkt mit ansprechender Haptik verlassen.
So erscheint "Phanerozoic Live" als dicke Cardboard-Trifold-LP mit Kupferfolien-Prägung in diversen Farbversionen, die die PayPal-Konten der Gib-mir-alle-limitierten-Farben-Sammler schnell im dreistelligen Bereich zum Negativklingeln bringen. Aber wie attraktiv ist "Phanerozoic Live" denn für die – nun ja – bodenständigeren Musikkonsumenten? Lohnt der Liveaufguss der beiden noch recht frischen Alben?
Kurz gesagt: Ja. Gerade im visuellen Bereich. Denn auch hier ist das Set mit beiliegender DVD und Downloads beider Konzerte bestens bestückt. Wo "Phanerozoic I: Palaeozoic" mit seinem vertrautem, deutlich an das 2013er "Pelagial" anknüpfendem Material wie geschaffen ist für die klassische Bühnendarbietung im menschenleeren Bremer Club100, setzen The Ocean für "Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic" auf eine ganz anderes Setting: Die nur wenige Tage später im Rahmen des "Roadburn Redux"-Online-Festivals eingespielte Release-Hälfte zeigt die Gruppe im offenkundig leicht unterkühlten Studio von Bandmitglied Peter Voigtmann in selig kreisförmigen Miteinander.
Dessen Opener "Triassic" strotzt zwar noch vor gewohntem Post-Metal-Bombast, unterstreicht mit samtigen Bass-Soli, Hypno-Vocal-Lines und Orient-Anleihen in der Melodieführung aber zugleich noch einmal, was für ein vielschichtiges Teil The Ocean hier 2020 vorgelegt haben.
Voigtmanns Anteil am Soundbild wird hier übrigens besonders deutlich: Nicht nur, dass es einfach große Freude bereitet, dem 2018 zur Band gestoßenen Tasten- und Klangästheten bei der Arbeit an bunt-blinkenden Launchpads zu beobachten – auch schraubt er die Synthesizer-Anteile im finalen Viertel dieses Mammutreleases noch einmal mächtig nach oben. Und wenn er zu "Oligocene" die Technik kurzerhand gegen die Sticks von Drummer Paul Seidel eintauscht, finden doch glatt ein paar wärmende Trip Hop-Vibes ihren Weg durchs spärliche Glühbirnenlicht.
Im Vergleich zu den Originalalben bietet "Phanerozoic Live" einen etwas flacheren, aber auch weitaus lebendigeren Sound. Nicht, dass The Ocean sonst mit Überproduktion zu kämpfen hätten: Aber gerade die verdammt lebendigen Tom- und Bass-Sounds verleihen diesem Release ein wunderbar organisches, im Post-Metal immer seltener gehörtes Feeling – gerade in den reduzierteren Segmenten der zweiten Hälfte.
In solchen Momenten gelingt es The Ocean, ihr gewohnt überkomplexes biologisches Storytelling nicht nur lyrisch, sondern auch instrumental in – sorry – Stein zu meißeln. Wobei Sänger Loïc Rossetti hier noch mit überhaupt keinem Wort Erwähnung findet. Übel, für wie selbstverständlich man dessen makellose Wechsel zwischen tiefen Cult Of Luna-Shouts und samtigem Linkin Park-Pop-Schreien (ja, das ist ein Kompliment!) offenbar nimmt. Aber was rede ich, diese Band muss wohl einfach live gehört werden. Oder eben als Live-Platte.
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