laut.de-Kritik
Musik als Waffe im Freiheitskampf mit westlichen Stargästen.
Review von Dominik KautzDie aus der Sahara-Region des nördlichen Mali stammenden, zum Nomadenvolk der Tuareg gehörenden Musiker von Tinariwen zählen zu den prominentesten und weltweit einflussreichsten Akteuren des sogenannten Desert Blues, einer evokativen, hypnotisch groovenden Melange aus traditionellen Tuareg-Volksweisen, Ruf-und-Antwort-Gesang, Blues und Versatzstücken westlicher Pop- und Rockmusik. Der charakteristische flirrende Sound des Kollektivs ist vollständig von den rauen Lebensumständen in der Wüste zwischen Ziegen- und Kamelzucht, existenzbedrohenden Dürrekatastrophen sowie dem Jahrzehnte dauernden Kampf der Tuareg als ethnische Minderheit gegen die politische Unterdrückung ihres Volkes und der Forderung nach eigenen, autonomen Staatsgebieten geprägt.
Zwei Jahre nach Erscheinen ihres letzten Albums "Elwan" veröffentlichen die Nordwestafrikaner jetzt mit "Amadjar" ihr mittlerweile neuntes Album. Auf diesem stellen sie die prägende Rastlosigkeit so prominent wie auf keinem ihrer Vorgängeralben als zentrales Element in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Alle Songs sind in der Tuaregsprache Tamashek gesungen (Übersetzungen der Songtexte des ehemaligen Bandmanagers Andy Morgan finden sich hier). Bassist Eyadou Ag Leche erklärt: "Amadjar steht für 'der fremde Reisende'. Das Album handelt davon, ein Fremder in deinem eigenen Land zu sein. [...] Es geht aber ebenso um Liebe und die Schönheit unserer Wüste."
Die Arbeiten zum Album beginnen im Oktober 2018 auf dem Taragalte Festival nomadisch lebender Kulturen in M'hamid El Ghizlane, mitten im Herzen der marokkanischen Sahara. Nach ihrem dortigen Gastspiel begeben sich Tinariwen für das Recording mit ihrem französischen Produktionsteam und einem mobilen Tonstudio auf einen zweiwöchigen nomadischen Trip durch das westliche Gebiet der Sahara und entlang der Atlantikküste. Die Songs der Platte entstehen dabei authentisch in natürlicher Landschaft während allabendlicher Camps unter freiem Sternenhimmel am Lagerfeuer.
Ziel der Reise ist die Wüste um die mauretanische Hauptstadt Nouakchott, wo die Aufnahmen zum Album in Zusammenarbeit mit der örtlich ansässigen Griotte Noura Mint Seymali und deren Gitarristen Jeiche Ould Chighaly innerhalb eines großen und extra zu diesem Zweck errichteten Studiozelt mit nur wenigen Livetakes ohne Kopfhörer und ohne Effekte stattfinden. Nach den Aufnahmen lud die Band, wie bereits bei den Vorgängeralben, westliche Musiker ein, um dem Album sehr dezent den letzten Schliff zu geben. Dennoch ist der westliche Einfluss auf "Amadjar" äußerst gering ausgefallen. Gemischt wurde die Songs in Paris von Jack Whites Kumpan Joshua Vance Smith.
Schon mit den ersten anebbenden Tönen des Openers "Tenere Maloulat" erwecken die Musiker mit ihren stark evokativen, meditativ-melancholischen Klängen in dezentem Mid-Tempo ein imaginäres Bild der unendlichen Einsamkeit und der Weite der Wüste. Begleitet wird die Band hier vom passionierten australischen Klangtüftler Warren Ellis, der sonst bei Nick Cave And The Bad Seeds spielt. Als wichtigster Kollaborationspartner auf dem Album ist er fast an der Hälfte der Songs beteiligt. Das gefühlvolle, schwermütige und zu jeder Zeit unaufdringlich begleitende Violinspiel des Australiers ist eine Reminiszenz an das wichtigste traditionelle Tuareg-Instrument, der einsaitigen und gestrichen gespielten Schalenspießlaute Imzad.
"Tenere Maloulat" führt den Hörer bestens in das der Platte omnipräsent zugrunde liegende Mindset der inneren Zerrissenheit der Mitglieder von Tinariwen ein. Im Text des Songs heißt es: "In an unbroken solitude, thoughts appear from nowhere. They frighten me / And, lost in the night, my thirst, my desire for water awakened me /.../ I have no hate left, my soul is confused /.../ I believe in no one now / I’ve become the son of gazelles, who grew up in the meanderings of the desert."
Dieses imaginäre Bild, die Reflexionen über den Jahrzehnte dauernden Kampf gegen die Marginalisierung des Daseins als Tuareg, dem daraus resultierenden Verlangen nach Heimat und die Forderungen nach Selbstbestimmung sowie Respekt ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album.
"Today, our future and our hope is an armed return to our homeland / For that reason, our enemies are like oblivion, if only we'd realized", singt Gründungsmitglied Ibrahim Ag Alhabib in "Amalouna" und macht den Song somit zu einem der wichtigsten Manifeste auf dem Album. Ebenfalls mit an Bord: Noura Mint Seymali mit ihrer eindringlich virtuosen Stimmführung und Sunn O)))-Gitarrist Stephen O'Malley, dessen hypnotische Melodien sich erfrischend unauffällig in das Gesamtgefüge des Songs anschmiegen.
Die vorab veröffentlichten Singles "Zawal" (feat. Warren Ellis & Jeiche Ould Chighaly), "Kel Tinawen" (feat. Cass McCombs) und das ausschließlich mit akustischen Instrumenten gespielte "Taqkal Tarha" (feat. Micah Nelson; Sohn von Willie Nelson) knüpfen klanglich und inhaltlich nahtlos an das Gesamtbild auf "Amadjar" an. Vor allem "Taqkal Tarha" besticht mit seiner Leichtigkeit, die in wesentlichen Teilen von einem zwischen Männer und Frauen aufgeteilten chorartigen Gesang und den luftigen Melodien von Nelsons hell klingender Mandoline lebt.
Man hört der Platte deutlich an, dass Tinariwen großen Wert auf ein einheitliches und stringent klingendes Album legen, da sich die Songs zum Teil über weite Strecken durchaus ähneln. Die entscheidenden Feinheiten, wie etwa das Dehnen der Zeit durch subtile Änderungen von Metrum und Takt, stecken im Detail und warten nur darauf, entdeckt zu werden. Das aber ist Ausdruck der authentisch indigenen Herangehensweise an ihre Art von Musik und somit in keinster Weise negativ zu werten - ganz im Gegenteil! "Die Wüste ist der Ort der uns am meisten inspiriert. Nicht nur wegen unserer Verbindung zur Natur, sondern auch wegen dem Sein außerhalb der Zeit. Wir lieben das. Für uns ist es unmöglich geworden, in einem geschlossenen Studio zu arbeiten" expliziert das Kollektiv seinen Ansatz.
Am wirkungsvollsten kommt dieser in den letzten beiden Songs "Lalla" und "Wartilla" (feat. Warren Ellis & Stephen O'Malley) zum Tragen. Beide Tracks unterscheiden sich deutlich vom Rest des Albums und kommen dem Assouf, der traditionellen Musik der Tuareg, vielleicht am nächsten. Das gilt vor allem für "Wartilla", das durch und durch von seiner mystisch-kontemplativen Grundstimmung und der glühenden Sehnsucht nach Frieden und Liebe lebt. "All that ist not, doesn’t exist / And desire can do nothing about it / Life doesn’t show you reality /.../ The hardest thing is to see love and friendship disappear" mahnt die Band in "Wartilla" an, dem absoluten Highlight der Platte.
Mit "Amadjar" halten die Tuareg-Musiker von Tinariwen die Kluft zwischen aufgenommenem Endergebnis und ihrem wahren Sound so gering wie möglich. Dass die Songs alle in natürlicher Umgebung während des Reisens komponiert und aufgenommen wurden, macht "Amadjar" zu ihrem bisher substantiellsten Album und zu einem zeitlosen Gesamtkunstwerk des Desert Blues.
Allgegenwärtig auf diesem politischen Manifest ist das Element des Widerstand. Während Mitglieder der Band in den Neunzigern noch mit Kalaschnikows gegen ihre Unterdrückung kämpften, nutzt die Band heute nur noch ihre Musik als Waffe im Kampf für die Freiheit. Für den westlichen geprägten Hörer gilt es, dieser imaginativen und magischen Musik mit Respekt und ohne jeglichen Anflug von Exotismus zu begegnen.
1 Kommentar
Nachdem ich diesem evokativem Gedudel mit respektlosem Anti-Exotismus begegnete, vergab ich einen post-kolonialen Stern für die Bemühungen des Rezensenten in Sachen magischem Fiktionalismus.
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.