laut.de-Kritik
Wo wäre Bob Marley ohne Toots? Nun, äh, keine Ahnung!
Review von Michael SchuhGleich sechs CDs feiern das Albumvermächtnis der frühen und größten Jahre einer jamaikanischen Ska-Legende, die weithin vor allem als Reggae-Legende wahr genommen wird: Toots & The Maytals. Ich will nicht verhehlen, dass hier absoluter Fan-Alarm herrscht, schließlich würdigte schon die Doppel-CD "Time Tough - The Anthology" von 1996 die musikalischen Errungenschaften von Meister Hibbert in ansprechender Ausführlichkeit.
Mein Fan-Blick erfreut sich bei der "Roots Reggae"-Box nicht nur am schmucken Äußeren des grün-gelb-schwarzen Rocksteady-Manifests, auch in der Produktionshektik gerne übersehene Details wie das Hinzufügen der Original-Artworks verleihen der Nostalgie zusätzlich Flügel (leider wurde am Booklet gespart).
Mit "The Sensational Maytals" (1965), "Sweet & Dandy" (1969), "Monkey Man" (1970), "The Maytals Greatest Hits" (1971), "Slatyam Stoot" (1972), und "Roots Reggae" (1974) beinhaltet die Box die sechs ersten jamaikanischen Alben der legendären Truppe, vier davon erstmals auf CD.
Diese Label-Aussage klingt zunächst arg nach Sensationswirbel, schließlich wären da noch die Hammeralben "From The Roots", "Funky Kingston" und das Debüt von 1963 zu verorten, die hier mit Abwesenheit glänzen. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass "From The Roots" 1973 zwar auf dem Kult-Label Trojan, aber nur in England erschien.
Mit dem "Funky Kingston"-Album wirds schon komplizierter, zumal die in der Box enthaltene "Roots Reggae"-CD verwirrenderweise das gleiche Cover aufweist. Hat aber alles seine Richtigkeit: So erschien die LP "Funky Kingston" mit dem gleichnamigen Monster-Hit erstmals 1973, gefolgt vom hier enthaltenen Album "Roots Reggae" im Jahr 1974, das Songs wie "In The Dark" und "(Take Me Home) Country Roads" aufbot.
Als 1975 das erste Toots & The Maytals-Album in Europa beim Majorlabel Island erschien, pickte Island-Boss Chris Blackwell für eine neue "Funky Kingston"-Auflage einfach die Highlights aus beiden Alben heraus, hängte mit "Pressure Drop" von 1969 noch eine erfolgreiche alte Single dran und fertig war der Megaerfolg, der der Band plötzlich auch abseits ihrer Inselheimat Tür und Tor öffnete. Cleveres Marketing.
Bedenkt man nun, dass sich jamaikanische Künstler der abendländischen Langspielplattenkultur seit jeher entziehen und stattdessen von Anbeginn der 60er Jahre lieber Singles im Monatsturnus veröffentlichten, ist es schon ein kleines Wunder, dass "The Sensational Maytals" 1965 überhaupt zustande kam. Brav im Anzug und mit dünner Krawatte stehen Nathaniel "Jerry" McCarthy und Henry "Raleigh" Gordon auf dem Cover um ihren Führer Toots Hibbert, wenn man das mal so sagen darf, der zur Betonung seines Chefanspruchs als einziger eine Gitarre umgeschnallt hat.
Es war die Zeit, als in Jamaica große Soundsystems um die Gunst des tanzwilligen Volks kämpften, mittendrin die späteren Legenden Prince Buster, Laurel Aitken, Lee "Scratch" Perry, Desmond Dekker und Clement Coxsone Dodd, der in den berühmten Studio One-Studios auch die ersten Maytals-Singles produzierte.
Die finden sich hauptsächlich auf dem '63er Album "Never Grow Old", das in der Box aus rechtlichen Gründen fehlt. Doch auch das '65er Werk "The Sensational Maytals" (produziert von Byron Lee) bringt mit frühen Ska-Fegern der Marke "It's You", "Never You Change" und "She Will Never Let Me Down" Hibberts ungeheures Talent für eingängige Pop-Melodien zum Vorschein. Seine Liebe zum Sound des Priestersohns Otis Redding belegen von souligem Gospel durchzogene Balladen wie "Daddy" und "It's No Use", die ebenfalls bald zum Toots-Markenzeichen avancieren sollten.
"Sweet & Dandy" von 1969 klingt schon deutlich sauberer im Sound, wofür man Produzent Leslie Kong noch heute einen Joint aufs Grab legen sollte. Der unter seiner Ägide entstandene Song "Monkey Man" bleibt für alle Ewigkeit ein rauh-direktes Ska-Monument, "54-46 That's My Number", geschrieben hinter Gittern aufgrund von Marihuana-Besitzes, der ewige Toots-Hit.
Die 6-CD-Box eignet sich natürlich besonders dafür, Songs abseits der zahlreichen Toots-Best Ofs aufzuspüren. So gefällt etwa auf "Sweet & Dandy" das vom Titel her nach Inspirationslosigkeit klingende "Bla Bla Bla" mit gewohntem Ruckelbeat und in "We Shall Overcome" verquickt Friedensprophet Toots erstmals einen bekannten Song mit seinen Ska-Beats, hier noch Pete Seeger, auf "Monkey Man" dann Lennon/McCartney in "Give Peace A Chance".
Obgleich sich einige Songs mit dem Vorgänger überschneiden - so läuft das eben mit Alben in Jamaica - dürfte das "Monkey Man"-Album von 1970 die ausgefeiltesten Maytals-Kompositionen beinhalten. Als Produzent fungierte ebenfalls Kong. Beginnend mit dem ansteckenden "Peeping Tom" über den Rocksteady von "Revival Reggae", das Pop-Fragment "Gold & Silver", das hippieeske "Doctor Lester" bis hin zur begnadeten Single "Pressure Drop" und der Abschlusspredigt "I Shall Be Free" sind hier zahlreiche große Momente des Maytals-Sounds versammelt.
Das "Roots Reggae"-Album von 1974 macht seinem Titel dann schon alle Ehre. Man trifft auf Live-Brecher wie "I Can't Believe" und auf eher unbekannte Schmankerl wie "I See You" oder "Love Gonna Walk Out On Me", das sich ungeniert an "Can't Help Falling In Love" orientiert und das immer verstärktere Interesse Toots' an der zarten Ballade offen legt.
Warum es Bob Marley mit Songs wie "Get Up Stand Up" zu Weltruhm brachte, während etwa das ruhig flowende Toots & The Maytals-Stück "Time Tough" über den Status des Insider-Hits nie hinaus kam, gehört zu diesen auf ewig ungeklärten Mysterien der Musikgeschichte. "Roots Reggae", die Wurzeln des Reggae. Toots Hibbert war nicht mittendrin, er lief vorne weg.
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