laut.de-Kritik

Ganz ungezwungen auf zu neuen Ufern.

Review von

26 Monate nach "Raus" wurde es höchste Zeit: Der Anti-Orson kehrt, zumindest für den Moment, zum Solo-Tua zurück. Sein Wegbegleiter Vasee steuert wieder eine visuelle Umrahmung bei, die das musikalische Resultat denkbar plausibel verbildlicht. Fast schon unnötig zu erwähnen, dass er dabei weiterhin auf das Stilmittel Schwarz-Weiß vertraut. Doch weniger Graustufen und Düsternis dominieren diesmal die Snippets und Videoclips, als eine behaglich helle Lichtflut.

Bewahrt hat sich Tua dazu passend seine Grundstimmung. Man kommt am Wort Melancholie beim Reutlinger noch immer nicht vorbei. Doch mit "Stevia" weicht der finstere Dubstep-Sound einem samtweichen Mix aus Contemporary R'n'B, Soul und Elektro-Pop, und die bleierne Depression vergangener Tage einer sanftmütigen Nachdenklichkeit.

Statt der eindeutigen Verarbeitung von innerem Aufruhr ("Ich muss hier raus!", "Ich will die Welt nicht hör'n!") übt sich Tua immer mehr in wertfreien Beobachtungen. Wie im eröffnenden Titeltrack: "Die Zeit so leicht es geht / Smalltalk in einem Aufzug / Man fragt, was sonst so geht / und hofft, dass der andere raus muss / im Hotelflur bleibt Licht an / Tag und Nacht / Alles geht schnell, frag' nicht nach / Stevia, Stevia."

Im Schauplatz Hotel spielt sich mehr oder weniger direkt auch die restliche halbe Stunde ab. Nicht zu Unrecht bezeichnen sie die EP bei Chimperator als Konzeptalbum. Aus den Traumlandschaften, in die etwa "Keiner Sonst" abdriften lässt, holen einen immer wieder Field Recordings zurück in die Szenerie. Mit dem jazzigen "Hotelbar, 4. Etage" atmet gar ein ganzes Interlude die Atmosphäre der noblen Nachtunterkunft.

In "Edward Hopper" geht Tua doch noch einmal einen akribisch durchdachten Schritt zurück, indem er seinen Gemütszustand statt mit sparsamen Gesangszeilen mit Rap-Verses zum Ausdruck bringt: "Die Minibar grinst, wie scheiß Fat Joe / get it poppin' / Ich stopf' ein' Kopf und hoff', er knockt mich aus / zünd' ihn an, zieh' und schau' zu meinem Stockwerk raus." Dem amerikanischen Realisten Hopper widmet Tua übrigens nicht nur diesen einen Songtitel, sondern verriet den Kollegen von Noisey darüber hinaus, er betrachte seine neue EP beinahe als "Übersetzung seiner Bilder in Musik".

Mit Sicherheit weiß Tua auch selbst: Wer Grenzen auslotet, läuft mitunter Gefahr, diese zu überschreiten. So geschehen bei "Femme Fatale". Wirkt das Instrumental mit halligen Claps und Snaps anfangs noch so betörend wie immer, gerät spätestens der Refrain hemmungslos überzuckert. Immerhin: Nach der Hälfte mündet der Holzweg in eine völlig neue Soundwelt, in der der Producer das Vorherige zerlegt und neu zusammenfrickelt. Wiedergutmachung gelungen.

Wo der Name Tua fällt, folgt der Titel 'Ausnahmekünstler' meist keine zwei Atemzüge später. Ein Glück, dass das Orsons-Mitglied den einzig richtigen Weg gefunden hat, mit dieser Bürde umzugehen: sie zu ignorieren. Anstatt es allen recht zu machen, erhält er sich mit "Stevia" seine musikalische Rastlosigkeit und gelangt dabei ganz ungezwungen zu neuen Ufern.

Zumindest als Mensch scheint er seiner Mitte aber ein Stück weit näher gekommen. Dem künstlerischen Output tut das gut. Im Grunde unterstreicht Tuas jüngste Entwicklung jenes Bonmot, mit dem der Protagonist in Joey Goebels Roman "Vincent" seinen Zögling aufzumuntern versucht: "Weißt du, nur ein Buchstabe unterscheidet bedrückend von berückend."

Trackliste

  1. 1. Stevia
  2. 2. Werbemädchen
  3. 3. Keiner Sonst
  4. 4. Der Bettler Und Das Meer
  5. 5. Hotelbar, 4. Etage
  6. 6. Femme Fatale
  7. 7. Exil (Vergleiche)
  8. 8. Edward Hopper
  9. 9. Pygmalion

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4 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 10 Jahren

    Neue Ufer? Tua ist definitiv ein guter Musiker, sehr guter Textschreiber und Produzent, aber das Album ist für mich "The Weeknd" Ripoff auf Deutsch. Da höre ich lieber das Original.

    • Vor 10 Jahren

      "Da hör ich doch lieber das Original"...
      Das Album ist ganz sicher kein Ripoff, sondern die konstante musikalische Weiterentwicklung des Style's den Tua schon seid "Nacht" drauf hat. Die Platte wurde 2005 veröffentlicht und wenn ich Wikipedia richtig verstehe ist dein "Original" erst seid 2013 bekannt.
      Also ich sehe da kein Ripoff.

    • Vor 10 Jahren

      The Weeknd kennt man nicht erst seit 2013, ein Musikfanatiker wie Tua schon gar nicht. Trotzdem halte ich die Anschuldigungen auch für abwegig, macht aber nix. Viel mehr stört mich, dass ich seit Lesen des Beitrags von kenpark einige unangenehme Szenen aus dem gleichnamigen Film im Kopf habe, die ich da nicht haben wollte. Tua bleibt, davon unbeeindruckt, unantastbar in der deutschen Musikszene.

    • Vor 10 Jahren

      Naja, gerade die Weiterentwicklung ist ja mein Punkt. Er hat sich halt am stärksten zwischen diesem und der letzten Platte in Richtung Weeknd entwickelt. Also praktisch seit dem Weeknd Hype. Selbst das Cover ähnelt den Weenkd-Covern :)

      Is ja auch egal. Wie ihr schon sagt: Unantastbar. Tua steht für mich in einer Linie mit Max Herre und anderen Hip Hoppern die den Radius bis zum Tellerrand mit ihrer Musik deutlich erweitert haben. Tut Hip Hop gut auch wenn es konkret vielleicht keiner mehr ist.

  • Vor 10 Jahren

    Schönes Album, schöner roter Faden. Bei der Review fehlt mir jedoch der Twist am Ende.

  • Vor 9 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 8 Jahren

    Ist irgendwie an mir vorbeigegangen, erst jetzt auf heavy rotation. Richtig nice scheibe. Grosse kunst. Hat mich dazu veranlasst mir seine kosmos box zu holen. Mal schauen was "narziss" kann.

    No filler. Favs: 1,2,7,8