laut.de-Kritik
Jede Spotify-Playlist versteht mehr von Stimmungsbögen.
Review von Yannik Gölz"Kennt ihr das überhaupt noch, wenn man bei alten Bekannten ins Auto steigt, sie noch eine uralte Bravo-CD im Handschuhfach liegen haben und auf einmal jeder darauf abgeht?", war der erste Gedanke meines Mitbewohners, als ich im Vorbeigehen erwähnte, die neue Bravo-Auflage besprechen zu dürfen. Und irgendwo hat der gute Mann recht, den Zeitkapsel-Faktor kann man den seltsam bunten CDs nicht absprechen, die vielleicht in unterschiedlicher Frequenz in fast jedem Haushalt des Landes herumfahren.
Da in Zeiten von Buzzfeed Nostalgie für die Zweitausender ein Ding ist, mit dem die Gesellschaft umgehen muss, liefert die Bravo nun zur 100. Ausgabe zusätzlich zu zwei Mal zwanzig Hits (Hits! Hits! Hits!) die zwanzig größten Hits (Hits! Hits! HITS!) der Bravo-Geschichte auf CD Nummer drei mit. Nostalgie aus der Brotdose, wenn man so will.
Dabei machen die etwa sechzig Titel erst mal nichts, außer schmerzlich jeglichen Poptimismus der vergangenen Jahre auszuprügeln. Denn wenn man die relativ wahllos zusammen gestellten Hits (HITS! HITS! HITS!) so durchhört, prasselt so viel substanzloser Pathos auf den arglosen Hörer ein, dass er nicht umhinkommt, sich wie damals zu fühlen, als er mit 13 – frisch in der edgy Punk-Phase – jede Form von Popmusik mit argwöhnischer Grummeligkeit beobachtet hat. Aber die Bravo gibt sich auch keine große Mühe, ihre Exponenten großartig zu vermarkten. Jede Spotify-Playlist versteht mehr von Stimmungsbögen.
Dann wechselt es halt von EDM-Ballade auf "Man's Not Hot" auf EDM-Ballade. "Durch den Monsun" zu "Hamma!". Mal Trauer, mal Fernweh, mal Empowerment, alles mit möglichst vagen, aber irgendwie großen Begriffen. Wie soll man die Emotionen in so einem hohlen Rahmen noch ernsthaft wirken lassen? Ob man wie der Mitbewohner zum Metaller oder wie ich zum unerträglichen Kern-Hipster wird, nach sechzig Bravo-Überhits versteht man im Detail, wieso viele Menschen mit bitterem Zynismus auf Popmusik reagieren.
Dabei gibt es ja durchaus gute Songs auf jeder einzelnen dieser Platten. "Nothing Was The Same" von Camila Cabello ist in Ordnung, "Friends" von Justin Bieber kann man definitiv so machen. Und tun wir gar nicht erst so, als wären Britney Spears' "...Baby One More Time" oder "Everybody" von den Backstreet Boys nicht absolut essentielle Teile jeder Kellerkneipen-Erfahrung um halb drei Uhr morgens. Aber welcher halbwegs vernünftige Mensch würde diese Songs jenseits von halb drei Uhr morgens im Bierkeller hören wollen?
Und da man neben 20 Semi-Retro-Jams auch 40 aktuelle Hits (HITSHITSHITS) im Einkaufswagen liegen hat, noch irgendwelche monumentalen Beobachtungen über den Status Quo der Popmusik? Es klingt alles einigermaßen gleich, nur das deutsche Zeug klingt noch mal ein wenig gleicher. Ich weiß, Schocker. Außerdem sind die Toten Hosen 2018 genauso mies wie "An Tagen Wie Diesen".
Eine gewisse LEA singt genau gleich wie alle weibliche Pre-Packaged-Sängerinnen, die sich nicht mal genug Persönlichkeit für einen Nachnamen zutrauen. Wir müssen irgendwann übrigens darüber sprechen, dass deutscher Mainstream-Pop gefühlt nur einen Typ Sängerin produziert. Und der ist aus irgendwelchen Gründen jedes Mal gleich submissiv, zahnlos und sterbenslangweilig. Da möge sich niemand je wieder über SXTN oder Schnipo Schranke beschweren: Die sind offenbar bitter nötig, bevor wir nur noch Reagenzglas-Gestört Aber Geil-Gaststimmen im Deutschpop vorfinden. Besagte Artists haben es übrigens auf diese drei Platten nicht geschafft, weil sie genau wie alle andere Musik mit mehr Biss als eine Silbermond-B-Seite im ersten Waschgang aussortiert wurden.
So wirklich lässt sich diese Jubiläums-Bravo einfach nicht beurteilen. Es ist mehr ein Gebrauchsgegenstand als eine Platte mit künstlerischen Absichten. Offensichtlich aus der Zeit gefallen, nicht umsonst erinnert uns Bausa daran, dass wir auch einfach A$AP Rocky via Spotify hören könnten. Und man munkelt ja auch, dass dieser Mix der Woche mindestens genauso viel musikalische Sinnhaftigkeit hat wie eine Bravo-CD.
Für alle, die noch nicht so recht in der Jetztzeit angekommen sind oder keinen besseren Weg kennen, einen großen Schlag Chartsongs auf einmal auf ihren Windows 95-Volksempfänger zu bekommen, denen sei diese Bravo herzlich empfohlen. Aber für alle Anderen ist der nachhaltigste Eigenwert dieses drolligen Relikts wohl der Plastikgeruch der Hülle. Und ob das einen Zwanziger wert ist, darüber kann man streiten.
19 Kommentare mit 12 Antworten
Ich hoffe, du hast dir das nicht in einem Durchgang geben müssten...
Dass man hier auch schlechte Musik besprechen muss, leuchtet mir teilweise ein aber wieso bedient man das Ressort "Abgehalfterte Compilations"?
Trackliste des Grauens!
Musik für den goldenen Schuss.
Dieseryannik im Bierkeller? Das schwarze Schaf hätte ich vielleicht mit viel Wohlwollen noch abgekauft, aber als waschechter Kernhipster sollte man sich eigentlich ausschließlich in irgendwelchen obskuren, der Masse unbekannten Privatclubs und -kneipen abgeben. I smell fake news!
Keine Zehn Pferde ziehen mich ins Schaf!
So so, welche Lokalitäten werden denn von unserem Berufshipster goutiert, wenn ich fragen darf?
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
Ich hab mich ja die meiste Zeit sowieso relativ bedingungslos dahin ziehen lassen, wo es den Freundeskreis gerade hinverschlagen hat, was dann öfter denn nicht auf die selben einschlägigen, massenkompatiblen Adressen hinausgelaufen ist. Bin aber auch der Meinung, dass die eigene musikalische Snobberie einer erfolgreich durchgezappelten Nacht nicht im Wege stehen sollte. Soweit es halt geht. Eine gewisse (relativ hoch angesetzte) Toleranzgrenze habe ich da dann doch schon noch.
Klar geht alles, Schaf fühlt sich aber immer zu sehr an, als wäre es Real-Life-Tinder für BWL-Ersties. Ich versteh schon, wenn Leute das cool finden, ist aber imo oft zu anstrengend. Wenns nach mir geht peil ich meistens Last Resort, Bierkeller und je nach Veranstaltung Epple oder Sudhaus an. Aber der superkrasse Geheimtipp existiert fürcht ich einfach nich
"Aber der superkrasse Geheimtipp existiert fürcht ich einfach nich"
Laut meiner BFF, zugezogen feminin, existieren für diese häufig gehörte Ausflucht zwei gängige Erklärungen auf Berlins Hinterhöfen:
1. Dem unwissenden Individuum tropft die Eigenschaft "zugezogen" noch aus jeder Pore, weswegen Ur-Berliner (oder die, die sich aufgrund der zwischenzeitlich als reduziert empfundenen eigenen Zugezogenheit dafür halten) mit Geheimtipps geizen.
2. Das Individuum ist/hält sich für einen Ur-Berliner, weswegen mit Geheimtipps in Richtung von Touristen oder kürzlich Zugezogenen gegeizt wird.
Nun, was sind denn Geheimtipp? In Berlin zumindest gibt es den so gesehen nicht in Bezug auf clubbing. Da will jeder ins Berghain. Und aus genug eigener Erfahrung kann ich sagen: fast alles andere ist eh scheisse. Es gibt vielleicht noch 2, 3 Veranstaltungen, die sonst gut sind: Homopatik im Sommer, wenn der wunderbare Dschungelgarten offen ist, in der Griessmuehle gibt es hin und wieder okayes (und nein, ich meine nicht Cocktail d'Amore), Herrensauna war ganz nett, als es noch im Bertrams stattfand, der Tresor hat oft hervorragende line ups, das Publikum ist aber scheisse und damit meine ich nicht den herrlich stumpfen Brandenburgraver. Dingens im KitKat (und generell dieser Scheissladen), Gegen geht gar nicht mehr, ich ertrage ja Homos bis zu einem gewissen Grad, aber diese widerwaertigen Schwuchteln da halte ich nicht mehr aus.
Aber das sind alles keine Geheimtipps. Auch die Renate ist kein Geheimtipp - aber von meiner Seite aus fuer jeden, der an einem Freitag nix zu tun hat, eine dringliche Empfehlung. Mucke egal, Publikum zu jung, aber der Ort ist einfach wundertoll. Bar25 gibt es nicht mehr, auch kein Geheimtipp.
"Untergrund"clubs in Berlin? Geht keine Sau hin. Hoechstens Leute, die heute noch ernsthaft mit Underground Resistance-Shirts rumlaufen.
Die Toten Hosen und darauf Lady Gaga ... guter Shuffle. Warum nicht mal just for fun Kreator mit Pleasure to Kill zwischen die Songs einbauen.
Sehe die Toten Hosen und Lady Gaga jetzt nicht soooo weit auseinander