laut.de-Kritik
Die Opas des Rock präsentieren die Uropas des Blues.
Review von Giuliano BenassiIst Rock tot oder nur alt? So lautet die Frage des Kritikers Bill Flanagan in der New York Times vom November 2016. Garniert mit einem Foto, das sie gut auf dem Punkt brachte: Mick Jagger auf der Bühne des erfolgreichsten Festivals aller Zeiten, dem Desert Trip, das kurz davor auf dem Gelände der Großveranstaltung Coachella stattgefunden hatte. Aufgrund der Besetzung, unter anderen Bob Dylan, Paul McCartney und Neil Young, erhielt es den passenden Zweitnamen "Oldchella".
Im selben Jahr huldigten die ebenfalls anwesenden Rolling Stones auf dem Cover-Album "Blue & Lonesome" ihren Vorbildern. Nun legen Sie noch eine Schippe drauf und präsentieren ihre Inspirationsquellen höchstpersönlich: 42 Lieder, selbst ausgewählt, mit einer Zeichnung von Zweitgitarrist Ron Wood auf dem Cover. Zur schönen Aufmachung gesellen sich kurzweilige Texte des Musikautors und Gründer der Encyclopedia of Popular Music, Colin Larkin, zu den einzelnen Künstlern.
Die Essenz seines Vorworts: Ohne den Blues gäbe es keinen "Folk, Jazz, Rock'n'Roll, Soul, Rock, Country Rock, Metal, Hip Hop und Urban R&B"; ohne die Rolling Stones, die zu Beginn ihrer Karriere viele Coverversionen spielten, wären die alten Meister in der Versenkung verschwunden; woraus sich ableiten lässt: Die Stones sind die einflussreichste (Blues-)Band aller Zeiten.
Ob man damit einverstanden ist, sei dahin gestellt. Noch unwahrscheinlicher scheint sein Versuch, den Blues als relevant für unsere Zeit darzustellen. Denn letztlich präsentieren hier die Opas des Rock die Uropas des Blues. Musikalisch lässt sich natürlich wenig meckern. Höchstens, dass in der Zusammenstellung keine einzige Frau berücksichtigt wurde. Den Anfang macht Muddy Waters mit jenem Stück, dass den Mannen um Mick Jagger ihren Bandnamen gab, "Rollin' Stone". Der Schwerpunkt liegt eher auf dem elektrischen Chicago Blues mit John Lee Hooker, Elmore James, Howlin' Wolf, B.B. King oder Buddy Guy. Chuck Berry tanzt ein bisschen aus der Reihe. Von den Urahnen aus dem Süden, die akustischen Delta Blues spielten, ist lediglich Robert Johnson vertreten.
Der Sound ist gut, auch ohne die mittlerweile standardmäßige Neuaufbereitung erfahren zu haben. Der Preis ist fair, zumal ein Teil der Einnahmen an die Willie Dixon Blues Heaven Foundation geht. Wobei die rechtlichen Formulierungen, die in verschiedenen Sprachen in einem extra Booklet beiliegen, nahelegen, dass es soviel nicht sein kann. Auf jeden Fall eine lohnenswerten Anschaffung, die auch auf zweifach Vinyl und fünffach 10"-Vinyl erhältlich ist. Konsequenterweise hätte es auch eine Schellack-Version geben müssen, die mit mindestens 21 Scheiben aber wohl den Rahmen gesprengt hätte.
Die gitarrenverachtende und Musikgeschichte ignorierende Jugend, die als Zielgruppe ausgewiesen ist, wird keine der Ausgaben jucken, vermutlich nicht mal die digitale auf Spotify oder iTunes. Interessanterweise erreichte ein Rockalbum, dass am selben Tag wie die vorliegende Zusammenstellung erschienen ist, weltweit die Spitze der Charts: das White Album der Beatles, 50 Jahren nach seiner Erstveröffentlichung. Kommerziell erfolgreich ist der Rock also nach wie vor. Aber alt, sehr alt.
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