laut.de-Kritik
Die coolen Beiträge überwiegen die peinlichen.
Review von Philipp Kause2019 punktet als guter ESC-Jahrgang. Ein Trend der Vorjahre war es bereits, dass die Eurovision-Musik kaum noch nach Schlager und Helene klingt. Und Europa zieht geographisch erstaunlich weite Kreise, auch dieser Trend setzt sich fort. Australien nimmt teil, an Aserbaidschan hat man sich gewöhnt, und Austragungsort ist Tel Aviv. Erdkundler würden das alles nicht direkt zu Europa zählen. Mittlerweile exotisierte sich das Event, wenn auf Armenisch, Krimtatarisch oder gar Swahili gesungen wurde.
2019 überwiegt Englisch. Einige statistische Daten: Der Frauenanteil am Mikrofon ist enorm, mit 18 Beiträgen immerhin bei 44 Prozent (zum Vergleich: Festival-Line Ups in Europa haben im Schnitt zu 14 bis 19 Prozent weibliche Frontleute). Ein einziger Schlager-Beitrag im Sinne eines luftigen, leichten Herz- und Heiterkeit-Titels mischt sich in die Selection, von Leonora aus Dänemark.
Der Anteil an Charts-ähnlicher Musik ragt heraus: Zählt man R'n'B-/Dance-Pop (Zypern, Weißrussland, Malta), hymischen Songwriter-Pop (Belgiens Sänger Eliot, Duncan Laurence aus Holland, die Irin McTernan, den queeren Franzosen Bilal Hassani), Folktronic (Estland) mit den Latin-Pop-Beiträgen (Schweiz und Schweden) zusammen, liegt diese Quote bei mindestens 24 Prozent. Der Dream-Pop von Paenda aus Österreich, der Bubblegum-Pop im Pet Shop Boys-Style von Lake Malawi aus Tschechien und der Indie-Rock aus Polen hätte zwar keine Chance gute Platzierungen in den Charts, ist aber generell für einen Rock- und Popmarkt gemacht. Typische ESC-Musik sind da wohl nur noch das Retro-90er-Überbleibsel DJ Darude aus Finnland mit seinem unerschrockenen Eurodance-Beitrag und die zahlreichen markerschütternden Balladen, die alle wie ein Ei dem anderen gleichen.
Wenige schnelle Titel, wie schon in den Vorjahren immer wieder , lockern die Tristesse auf. San Marino, Spanien, Tschechien, Zypern und Weißrussland und hieven das Tempo punktuell nach oben. Wer die Doppel-CD erwirbt, bekommt so gesehen eher ein Best Of aus Balladen, Slow Music, Akustik-Songs und leisen Tönen.
Echte Fails finden sich überraschend wenige. Der Song aus Portugal wirkt lustlos und introvertiert. Das Video des georgischen Kandidaten Oto Nemsadze sollte sich anschauen, wer das Event humoristisch betrachtet. Es zeigt eine Bühne, auf der ein Schlagzeug und mehrere Mikrofonständer aufgebaut sind, aber niemand ein Instrument spielt. Eine der nationalen Jurorinnen tanzt affektiert im Bildvordergrund. Der Sänger kämpft sich ab, wirkt wie ein bemühter Casting-Kandidat und trägt so dick auf wie Meat Loaf, Michael Bolton und Konstantin Wecker zusammen. Alles zusammen sieht aus, als hätte Hape Kerkeling es inszeniert.
Gesanglich, kompositorisch, textlich und stilistisch unter dem übrigen Niveau läuft der schwedische Sänger John Lundvik. Noch ein Schwede tritt auf Englisch für Estland an: Victor Krone versucht offenkundig George Ezra und Mumford & Sons zu kopieren. Leider fiel ihm dafür kein origineller Text ein. Mit "All my life I wondered why / I keep fighting all the time / For million reasons that I find / But I might be alone / I had highs and I had lows" beginnt der Song, der alles und nichts ausdrückt. Der Kroate Roko untermalt "The Dream" mit einem Engelskostüm, das von der Seite aus gefilmt so peinlich ausschaut, wie das Lied klingt. Aufgesetzt wirkt der Titel, für den die Engländer sich begeistern, "Bigger Than Us" mit Michael Rice, Was Deutschland mit S!sters aufbietet, mutet im Direktvergleich langweilig, kitschig und etwas unbeholfen an - eine der miesesten Performances unter den 41 Darbietungen.
Viele Tracks gelingen aber sehr gut, so der folkig-feminine Beitrag aus Armenien. Srbuk überrascht mit einer Emanzipationsstory. Der Malteserin Michela mit funky Kehlkopfkieks, gleichwohl tiefer Stimme und Londoner Akzent würde man den Durchbruch im Urban Pop/Soul wünschen. Ihr Video zu "Chameleon" fällt als eine der liebevollsten Produktionen auf. Wohlgemerkt: Diese Doppel-CD erscheint auch als DVD, doch nur wenige gute Clips überzeugen visuell. Lake Malawi etwa. Diese Tschechen liefern mit "Friend Of A Friend" in der Optik einer durchgescrollten Instagram-Chronik eine witzige Film-Idee. Zudem tönt auch der Song mehr als solide. McCartney-Harmonien auf Disco-Beats. Hätte American Apparel seine Filialen nicht dicht gemacht, würden wir diese Mucke dort sicher aus den Lautsprechern hören.
Montenegro schickt mit D Mol eine Band ins Rennen, die zugleich Boy- und Girlgroup ist und ihren Job ganz gut macht. Die optisch, stilistisch und choreographisch an Lena erinnernde Weißrussin Zena legt routinierten Dancefloor-Sound hin. Aus der Belarus hätte man diese Sorte urbaner Musik wohl zuletzt erwartet. Die bauchfrei auftretende Tänzerin in Weiß wirkt luftig, und als käme sie aus London statt aus einem Land mit geringer Meinungs- und Kunstfreiheit.
Die traurige atmosphärische Akustik-Nummer "Az Én Apám" aus Ungarn dürfte trotz der Landessprache europaweit anrühren. Wobei aufgrund der politischen Isolation Ungarns fraglich ist, ob Joci Pápai allzu viele Jurystimmen aus bestimmten Ländern bekommt. Der Song zeigt, dass ein kurzer Liedbeitrag ohne Glitzer, ohne langes Intro und ohne Pomp sehr wohl fesseln kann. Mehr als all die aufgebrezelten Nummern.
Zypern verfügt jetzt über eine eigene AlunaGeorge, Tamta. Deren Gesang in "Replay" klingt atemlos und naturalistisch, wobei ihn im Refrain Echos, Hall und kleine Soundverzögerungen veredeln und verfremden. Tamta unterscheidet sich von anderen Teilnehmern, indem sie Bewegung und Gesang zu einer Sache verbindet. Der Videoclip ist ein Dance-Video mit zahllosen Grafikeffekten, Posen und Schnitt auf die Beats. Wie sie das auf der Bühne in Tel Aviv überzeugend aufführt, bleibt fraglich. Akustisch einprägsam wirkt die junge Lady jedenfalls. Sollte sie in die Top 5 kommen, dürfte ihr eine internationale Karriere winken, da sie gut in die Auswahl-Raster der Majors passt.
Dunkel und rauchig wie zu einem James Bond-Film erklingt die Stimme von Tamara Todevska zur Cello- und Pianopedal-Kammermusik auf "Proud", einem sehr engagierten Beitrag. Der dramatische Track leidet zwar daran, dass er überkandidelt ist. Aber Seele hat er. Die Irin Sarah McTernan hätte den Sieg verdient, wird aber auch ohne ihn Chancen auf eine weiterführende Pop-Karriere haben. Der Song besteht vor allem aus einer monotonen Bass Drum und dem Gesang. Weniger ist ja oft mehr, so auch hier. Das Vintage-VideoStyle in Dia-/Handcam-Optik fällt aus dem Rahmen. Duffy, Eliza Doolittle und die holländische Schauspielerin Ellen TenDamme fallen als Referenzen für diesen Storytelling-Ansatz mit Stimmpräsenz und Power-Pop ein. Aber Sarah klingt tiefer und voller.
Carousel aus Lettland zählen zu den wenigen mit Folk-Ansatz, in diesem Jahrgang ein wenig besetzter Zweig des Contests. So schlicht und schön "That Night" von Takt zu Takt säuselt, scheint dem Titel nicht die geringste Chance beschieden. Im Auge behalten sollte man Carousel trotzdem.
Eine andere Form des leisen Ansatzes wählen Zala Kralj & Gašper Šantl aus Slowenien. Deren tieftönigen minimalistischen Laptop-Sound kombinieren sie mit Conscious Songwriting. Auch wer kein Wort von den Lyrics in "Sebi" versteht, wird spüren, dass sich wenig Text wiederholt und Zala hier eine längere, intensive Geschichte erzählt. Die Sprachhürde behindert den Song zwar - sympathisch und ungewöhnlich sticht der Beitrag im Contest-Kontext aber hervor.
Norwegen entsenden KEiiNO, auf Englisch. Dieser Sound, der einen in Deutschland unweigerlich an Animations-Hit "I Engineer" erinnert, scheint aus der Zeit gefallen, passt aber zur Veranstaltung. Die kreativsten Anwärter kommen aus Polen. Tulia werden für ihren schrägen Ethno-Punk-Pop in "Fire Of Love (Pali Sie)" schon einmal eine Stimme erhalten: meine. Ihr absurdes Schwarzweiß-Video und der überdrehte Gesang tragen dazu einiges bei. Doch auch die Soundmixtur verblüfft. In Polen mit seiner breiten Folk-, Ska-, ProgRock- und Punk-Szene gibt es zwar viel solcher Musik, aber außerhalb des Landes dringt sie selten durch.
Der Holländer Duncan Laurence hat insgesamt die wohl besten Chancen darauf, Stimmen aus den Nachbarländern zu erhalten. Seine Musik strengt nicht an, passt zu aktuellen Hörgewohnheiten, und Song und Sänger lassen sich ernst nehmen. Eher heimlicher Favorit und der Titel mit dem vertracktesten Songwriting und dem meisten Pfeffer im Rhythmus dürfte Mahmood mit "Soldi" sein, konsequent auf Italienisch, ein Mix aus Klavier, Streichern, Synthesizern, Clap-Beats und einem Instrument, das wie Cembalo klingt. Der ESC 2019 fährt viel Pomp auf, aber auch viele gute Songs in Landessprachen. Er ist eine Talentmesse für Pop und kein Schlagerwettbewerb noch Folkgedudel.
2 Kommentare mit einer Antwort
Pfff - alle möglichen Teilnehmer ansprechen, aber ausgerechnet Island als Totalexot weglassen.
Dann mach es doch besser, wenn du es könntest, ARMSELIG
Du verbreitest nur negative Vibes
Ja das stimmt die Teilnehmer aus Island sind sehr speziell sowas gefällt nicht jedem vielleicht deshalb dazu keinen Text.