laut.de-Kritik
Soundscapes für Mondsüchtige.
Review von Dominik KautzIs there anybody out there? Ein einsamer Homunculus steht neben einer überdimensioniert riesigen, parabolförmigen Satellitenstation, während am Firmament zwei Monde aufgehen. Die Szenerie ist in kalten, türkis-lila-grünen Farbtönen gehalten und könnte so auch aus einem Endzeit-Sci-Fi-Streifen stammen.
Das Bild ist das Cover We Never Learned To Lives zweiter Scheibe "The Sleepwalk Transmissions". Die Band aus Brighton nimmt es als Leitmotiv für atmosphärisch dichte Musik zwischen Post-Hardcore, Post-Rock und Screamo. Dabei dient der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick als Inspirationsquelle für das lyrische Element des Konzeptalbums. Wer Herrn Dick nicht kennt: Die Filme "Blade Runner" und "Minority Report" basieren auf seinen Kurzgeschichten.
2015 veröffentlichte das Quintett um Sänger Seán Mahon das hochgelobte Debüt "Silently, I Threw Them Skywards". Mit der Platte tourte die Band mehrfach durch ganz Europa. Als Krönung lud sie die BBC zu einer Aufnahmesession in die geschichtsträchtigen Maida Vale Studios ein. Der legendäre Radiomoderator John Peel nahm dort seine berühmten "Peel Sessions" auf.
Und mit dem neuen Album legt die Band in puncto Songwriting noch eine Schippe drauf: Ausgefeilte Klanglandschaften, die vor Brachialität nur so strotzen – ohne dabei auf eingängige Melodien zu verzichten. Musikalisch bewegen sich We Never Learned To Live im Fuhrwasser von Hopesfall, Thrice und den Deftones sowie einer Mischung aus At The Drive-In und La Dispute. Am auffälligsten ist vielleicht die klangliche Nähe zu Fjørt, die sie Anfang 2019 auf deren "Südwärts"-Tour begleiten. Die Band selbst bezeichnet sich auf ihrem Bandcamp-Portal als eine "Post-Rock inspired cathartic misery".
Der Opener "Permafrost" gibt direkt die Richtung von "The Sleepwalk Transmission" vor. Nach dem düsteren Ein-Minuten-Singlenote-Intro einer Gitarre und einem fett mit Hall belegten Schlagzeug bricht der Song förmlich zu einem aggressiven, rifflastigen Monstrum aus. Sänger Seán Mahon schreit sich in diesem "Sound of humanity" erbarmungslos die Wut über eine dunkle, kalte Welt voller Einsamkeit heraus, in der einzig und alleine das Flimmern von Bildschirmen Trost zu liefern scheint.
Diese hoffnungslos anmutende Welt findet einen Höhepunkt in "Android Anaesthetist", in dem das lyrische Ich von einem Androiden operiert und mit den Worten "Calculating your mind estate / remote control / like a mind ejected" unterworfen wird. Musikalisch erinnert das ganze klar an die "Around The Fur"-Phase der Deftones.
Direkt auf "Android Anaesthetist" folgend bringt "Human Antenna" den postoperativen Zustand des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Dieser Song ist zugleich der erste, der für die neue Platte geschrieben wurde und bildet mit seinen anflutenden und abklingenden Parts die logische Brücke zum Vorgängeralbum.
Die Single des Albums "Luma / Non Luma" ist der eingängigste Song auf "The Sleepwalk Transmissions" und zeigt vor allem in stimmlicher Hinsicht eine Nähe zu Rise Against. Thematisch geht es um das Gefühl, im gleichen Moment völlig präsent und total abwesend zu sein. Die Band selbst erklärt diese Dichotomie als "das Gefühl der Abwesenheit während des Hörens entsetzlicher Nachrichten oder des Sich-Verweigerns bei Problemen, von denen man insgeheim weiß, dass sie dadurch schlimmer werden".
"Retreat Syndrome", ein Song für all jene, die einen dunklen Trost beim Schwelgen in negativen Erinnerungen empfinden, schlägt musikalisch in eine ähnliche Kerbe. Als Outro zu "Retreat Syndrome" dient "From The Sixth Floor" - nur mit cleanem Gesang und unverzerrter Gitarre - als kleine Erholungspause.
"Radio Silence" ist die abschließende Wuchtwalze und fasst die stilistischen Elemente des Albums noch mal bestens zusammen. Inhaltlich handelt der Song von dem sehnsüchtigen Verlangen, sich von der Außenwelt abzukoppeln - nur um sich in der eigenen Gedankenwelt zu verlieren, zu der kein anderer Mensch Zugang hat. Dazu reihen die Briten ruhige und verträumte Parts an schleppende Riffs, die vom brachialen Organ Mahons getragen werden. Ein letztes Mal baut sich darüber ein Singlenote-Gitarrensolo in bester Post-Rock-Manier auf, bevor der Song in einer hallgetränkten, repetitiven Moll-Melodie ausklingt, die sich in diesem Moment wie von einer anderen Welt anhört.
We Never Learned To Live liefern mit ihrem Zweitwerk eine Scheibe ab, die, obwohl es mehrere Durchläufe braucht, damit sich die Stücke wirklich erschließen, unmittelbar in ihren Bann zieht. Mahon erklärt das Konzept des Albums "als eine Verschmelzung von Science-Fiction-Kurzgeschichten mit einem narrativen Bogen, der stets der Frage nachgeht, was das Menschsein in einer immer mehr durch Künstliche Intelligenz, alternative Realitäten und Abhängigkeit von Technik geprägten Welt bedeutet".
"The Sleepwalk Transmission" ist so ein Album der Gegensätze, eine Wucht zwischen Zerstörung und Hoffnung. Gewaltig ausbrechende Riffs folgen auf zerbrechliche, hall- und delaygetränkte Melodien. Der Gesang schwankt zwischen brachial und melancholisch-melodiös. Die bestens umgesetzte Verbindung von Text, Musik und Albumcover machen "The Sleepwalk Transmissions" zu einem Konzeptalbum, das nur als Ganzes betrachtet werden kann. Ausfälle sucht man in dem in sich geschlossenen Werk vergebens - großes Ton-Kino.
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