laut.de-Kritik
Ein Gründungsmythos, vor dem es kein Entfliehen gab.
Review von Dominik LippeDie Reue setzte im Gefängnis ein. "Es gab einen Punkt in meinem Leben, an dem ich mir aussuchen konnte, in welche Richtung ich gehe", schilderte Xatar, als ihn Marcus Staiger in der Haft besuchte. "Ich habe mich für die Richtung mit Action und Risiken entschieden. Das ist am Ende ausgeartet." Besagte Eskalation zeigte sich in Form eines Überfalls auf einen Goldtransporter, bei dem er mit seinen Komplizen Gold im Wert von 1,7 Millionen Euro erbeutet haben soll: der Kulminationspunkt eines Weges, der Giwar Hajabi von der iranischen Provinz über den sozialen Brennpunkt in Bonn in die JVA führte.
Der Goldraub sei ihm als – vergleichsweise – harmloser Versicherungsbetrug verkauft worden, gestand er später in der Juice. 200.000 Euro sollten für ihn herausspringen, mit denen er seine Schulden zu tilgen gedachte. Nach der Tat reiste er zuerst nach London, doch als ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, flüchtete Hajabi weiter nach Moskau. Die russische Geheimpolizei habe wenig Interesse an ihm gezeigt. Erst als Interpol die Suche ausweitete und selbst das russische Fernsehen über seinen Fall berichtete, habe der FSB ihn und seinen Mittäter aufgefordert, den Staat zu verlassen.
Da der Irak darauf verzichtet, mit der internationalen Polizei zu kooperieren, zog es die zwei Delinquenten in die arabische Welt. Ein Fehler, wie sie erst zu spät erkannten. "Da ist ein Leben nichts wert", schilderte der trotz allem eben doch deutsch sozialisierte Hajabi mit zeitlichem Abstand. Ein dortiger Geheimdienstmitarbeiter hatte sich zunächst kollegial gegeben, kam dann aber doch mit Militärs, um beide abzuholen. "Er nahm uns die Pässe ab und sagte: 'Kommt mit. Wir laden euch ein, wir wollen einen Tee zusammen trinken'", erinnerte er sich. "Wenn man das hört, dann weiß man, dass es ganz schlimm wird."
In der Überzeugung, Hajabi und sein Kollege wären mit Koffern voll Gold in den Irak eingereist, schlug der Geheimdienst einen Handel vor. Wenn sie ihnen die Beute aushändigten, bekämen sie ihre Pässe zurück. Interpol hätten sie mitgeteilt, beide auf der Flucht erschossen zu haben. Doch das Diebesgut war außer Reichweite. Beide landeten im Gefängnis, ertrugen Folter, erlitten Verbrennungen und Knochenbrüche. "Ich war kaputt. Drei Monate ging das so. Dann kamen sie eines Tages in unsere Zellen und haben uns so Tüten über den Kopf gezogen", berichtete er im Nachhinein. "Ich dachte, ich sterbe."
Erst im Flugzeug erkannte Hajabi, dass es sich bei seinen vermeintlichen Henkern um Deutsche handelte. "Ich wäre denen fast um den Hals gefallen", erinnerte er sich an seine Erleichterung. Sein Verfahren fand daraufhin bei den ordnungsliebenden Schwaben statt. "Baden-Württemberg ist kein Spaß", zeigte er sich noch Jahre später gegenüber 1Live beeindruckt von den dortigen LKA-Ermittlern. "Die haben Geld und die haben Bock." Er legte ein Geständnis ab und wurde für den Tatbestand des räuberischen Angriffs auf einen Kraftfahrer zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt.
Hajabi fand sich als Gefangener Nummer 415 in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach wieder. Das 1914 noch als Zuchthaus eingeweihte Gefängnis hatte schon illustre Figuren beherbergt, darunter der 'Ruhrkannibale' Joachim Kroll oder Günter Guillaume, DDR-Spion im Bundeskanzleramt, dessen Enttarnung zum Rücktritt Willy Brandts beigetragen hatte. Während sich seine Mitgefangenen mit Soaps beschäftigten, um "an irgendwas Fortlaufendem" teilhaben zu können, wie er später hiphop.de berichtete, widmete Hajabi sich ganz der Musik. "Das war dann für mich mein 'Gute Zeiten, schlechte Zeiten'."
Zunächst ließ er sich die Alben von Nas, Tupac, The Game, Jay-Z, The Pharcyde, KRS-One und The Notorious B.I.G. in die Justizvollzugsanstalt bringen, um sich von deren Genre-Klassikern inspirieren zu lassen. Dann schritt er selbst zur Tat. "Ich habe ein Musikprojekt im Knast angeleiert, und für dieses Projekt wurde ein Diktiergerät besorgt", eröffnete er Staiger, als dieser ihn im Gefängnis interviewte. "Zwischen der Ankunft des Geräts und dem eigentlichen Projekt hatte ich aber zwei Wochen Pufferzeit, die konnte ich dann ausnutzen und so 'Nr. 415' aufnehmen."
Die Aufzeichnungen im Gefängnis seien "übertrieben stressig" gewesen, berichtete er 1Live. Eingeweihte Zellennachbarn hatten stets die Augen offengehalten und den Rapper per Klopfzeichen gewarnt, wenn sich seiner Zelle Wärter näherten. 120 Songs seien auf diese Weise entstanden. Xatar gelang damit ein waschechter Coup, der seinen späteren Mythos nährte. Die Entstehung und Veröffentlichung eines ganzen Albums während einer zu verbüßenden Haftstrafe dürfte auch Ausdruck seiner Ungeduld gewesen sein, die ständige Unzufriedenheit mit der Soundqualität wiederum offenbart seinen Perfektionismus.
Die Genese spiegelt er auf ironische Weise im "Intro", das zwei unbedarfte Aufseher dabei begleitet, wie sie ihn durch die lautstarke Musik bei heimlichen Rap-Routinen erwischen. Fließend geht der Prolog in den Titelsong "415" über. Maestro kleidet die Haft-Hymne in ein zitterndes Instrumental, das eine gewisse Nervosität mit der enigmatischen Aura seines Hauptdarstellers verknüpft. Optimal rahmt es das Schwergewicht ein, das sich weniger als Flow-Virtuose zeigt, sondern seine Verse eher mit einer Unverrückbarkeit vorträgt, die keinerlei Widerspruch duldet.
Dass ihn sein Konzept zum Erfolg führen würde, schien 2012 alles andere als ausgemacht. Drei Jahre zuvor hatte Aggro Berlin alle Künstlerverträge aufgelöst. Die kommerziellen Höhenflüge von Selfmade Records mit ähnlich cartoonesken Charakteren standen noch bevor. Stattdessen rückten Casper, Marteria und mit etwas Abstand Cro den Deutschrap gerade in eine pflegeleichtere Richtung. Schon in einem seiner ersten, noch weitgehend chaotischen Interviews gab Xatar 2008 selbst zu bedenken, dass Gangsterrap nichts Neues mehr sei. "Da hätte ich ein paar Jahre eher kommen müssen."
Vor allem drei Aspekte erwiesen sich als hilfreich dabei, ihn dennoch auf der Rap-Landkarte zu positionieren. Da wäre zum einen das Spiel mit der Sprache, das Haftbefehl etwa zeitgleich pflegte und das Celo & Abdi mit "Hinterhofjargon" zur Meisterschaft brachten. Als richte er sich in erster Linie an Eingeweihte, bedient sich Xatar bei einem Sprachmix aus der spielerischen Bonner Bi-Sprache, Drogenfachchinesisch und eingeschobenen Ausdrücken aus dem Arabischen, Kurdischen und Türkischen. "AON und Azzlacks liefern sich keine Battle", verspricht Capo dann auch auf dem Sparten-Gipfeltreffen "Konnekt".
Der zweite Faktor dürfte für den Rapper noch bedeutender ausgefallen sein. Mustergültig liefert er die viel beschworene Authentizität, die er auch bei jenen einforderte, die er vertraglich an sich band. "Im Großen und Ganzen ist Xatar Giwar", unterstrich er einst bei 1Live. "Die Person, die wir als Künstler darstellen, die sind wir meistens auch in echt." Selbstreflektiert wie er war, wusste er aber natürlich auch, dass er sich selbst inszenierte. "So ernst nehm' ich das jetzt alles nicht mit dem 'Baba'. Das ist kein Titel, den man sich erkämpfen muss", hieß es etwa abwinkend, als er "Baba Aller Babas" bewarb.
Generell blickte der sonst auf Ehrlichkeit pochende Rapper wohlwollend bis wertschätzend auf die Konkurrenz von Image- bis Studentenrap. "Es sind sehr viele Facetten entstanden im Hip Hop in Deutschland, und das ist auf jeden Fall sehr cool, das ist förderlich für das ganze Game", lobte Xatar etwa bei Deluxe Music. Wenn er seine Gaunervisage überbetonte oder memetaugliche Stücke wie "Iz Da" oder "Mein Mantel" arrangierte, fiktionalisierte selbstverständlich auch er den bürgerlichen Giwar Hajabi bis zu einem gewissen Grad für das Kunstprojekt - freilich ohne ins Infantile abzurutschen.
Das gilt auch für das dritte Kennzeichen des Xatar'schen Kosmos. Dank des vergleichsweise weiten musikalischen Horizonts von ihm und seinen musikalischen Mitstreitern M3, Reef und Maestro wirkt "Nr. 415" im besten Sinne 'erwachsen'. Stets bringen sie Stil in die Gangster-Pose. "Ein Dieb Kann Kein Dieb Beklauen" basiert etwa auf "Don't It Drive You Crazy" von The Pointer Sisters. Zwischen Soul-Sample und fliegender Untertasse lässt der Sound eher einen Blaxploitation-Film à la "Shaft" vor dem inneren Auge ablaufen als eine knallige Gaunerkomödie im Stile eines Guy Ritchie.
In "Für Immer Yok" lässt sich Xatar von schleichenden Spannungselementen und wuchtigen Bläsern um den Globus treiben, während "Befeindete Freunde" mit butterweichem Bass und Saxophon-Einsprengseln eine fatalistische Atmosphäre kreiert, als bewege es sich durch die Seitengassen New Yorks der 1970er Jahre. Easy Digital und Mete Makkat verarbeiteten dafür "Wilford's Gone" der Jazzfunker The Blackbyrds, bei denen sich schon Nas, Gang Starr oder MF Doom bedient hatten. Das extrem reuevolle "Meine Welt" greift wiederum auf das tröpfelnde "Timeless" von Lee Groves und Peter Marett zurück.
Während er in "Meine Welt" noch vor sich selbst flieht, kommt Xatar in "Führ Mich Auf Den Geraden Weg" ganz bei sich an. "Wie konnt' ich nur so werden? Meine Eltern verdienten doch ihr Brot ehrlich", erkennt er bußfertig an. Zugleich fügt er seine persönliche Geschichte in eine größere Erzählung ein, in der seinesgleichen den Strukturen der Macht ohnmächtig gegenüber zu stehen scheint. "Ihr macht Karriere - und wir sehen nur zu. Doch Jungs wie ich akzeptieren das nicht. Wir wollen weg vom Dreck, warum kapiert ihr das nicht?", rappt er eindringlich mit dem ihm eigenen Antrieb.
Erst mit "Es Ist Wie Es Ist" hellt sich die Stimmung spürbar auf. Maestros Piano-Instrumental wirkt wie dem Geist der kölschen Redensart 'Et hätt noch immer jot jejange' entsprungen, während der Rapper mit einem gewissen Galgenhumor auf die Dramen und Schicksalsschläge blickt, die sich um ihn herum abgespielt haben. In "Wenn Ich Rauskomm" träumt er schließlich vom Geschmack der Freiheit, die er nach seiner Haftentlassung zu genießen gedenkt. Sehnsüchtig erklingt das Saxofon von M3, derweil gestattet sich Xatar dank Chorus von Aram Kaya einen Schuss Sentimentalität.
Ob es ihm lieber gewesen wäre, nie erwischt worden zu sein? "Ich glaube, das wär' nicht so gut gewesen", gestand er im 1Live-Interview. Ende 2014 erfolgte Hajabis vorzeitige Haftentlassung. Es sollte noch etwa vier Jahre dauern, bis der Autor dieser Zeilen die Gelegenheit bekam, ihn kennenzulernen. Bereits seine Kontaktaufnahme fiel aus dem Rahmen, erklärte er es doch für "voll unangenehm", sprich unhöflich, sich flapsig über WhatsApp vorzustellen. Lieber lud er direkt zum Vier-Augen-Gespräch in ein Kölner Sushi-Restaurant ein.
Xatar entzog sich den Klischeevorstellungen, die viele über ihn haben mögen. Während sich die meisten Rapper wohl sogar selbst als ichbezogen bezeichnen dürften, schaute er weit über den Tellerrand hinaus. Sein Netzwerk reichte in die unterschiedlichsten Bereiche der Gesellschaft, und obwohl er es schon seiner charakteristischen Erscheinung wegen schwer gehabt haben dürfte, sich habituell anzupassen, konnte er in diese vordringen. Als sein Weggefährte Xalo Selam später sein Buch vorstellte, war Hajabi so etwas wie das abwesende Gravitationszentrum der illustren Besucherschar.
Im persönlichen Gespräch zeigte sich Xatar reflektiert, stellte Fragen, äußerte ungezwungen positive wie negative Kritik, beäugte, charakterisierte und verglich sein Gegenüber. Einmal kam die Cannabislegalisierung der Ampel-Regierung zur Sprache. Der im Hinblick auf die Unwägbarkeiten der Politik wohl typisch deutschen Bedenkenträgerei des Autors begegnete er mit purer Unternehmungslust. Ein flüchtiger Charakter erwies sich als Kehrseite dieser umtriebigen Eigenart. Eben ging es noch um ein umzusetzendes Projekt, schon war er nur noch schwer erreichbar, weil er plötzlich in Tokio, London oder den Emiraten weilte.
Intensiv setzte sich der Verfasser mit ihm über seine Außenwirkung auseinander. Hajabi trieb der Wunsch um, vor allem für seine unternehmerischen Erfolge bekannt zu sein. Er wollte ernst genommen werden, vielleicht sogar als seriös gelten. Folgerichtig sprach er eher peinlich berührt über seine frühen Fernsehauftritte. Ja, es wirkte auch so, als sei ihm die öffentliche Besprechung seines Überfalls mittlerweile zuwider. Dass es sich um eine Art Gründungsmythos seiner Figur handele, konnte er natürlich nachvollziehen, immerhin hat er diesen selbst oft genug werbewirksam für sich zu nutzen gewusst. Dennoch schien es ihm lästig geworden zu sein.
Einst hatte er im Gespräch mit Marcus Staiger seine Sorge geäußert, seiner Familie womöglich nur Kummer zu hinterlassen. "Was ist, wenn ich morgen umfalle und sterbe, was Gott verhüten möge, aber was ist dann?" Am 7. Mai 2025 verstarb Xatar eben so überraschend, wie er es ehemals befürchtet hatte, und auch wenn er in den zehn Jahren, die ihm nach der Haftentlassung blieben, Wiedergutmachung geleistet haben dürfte, fühlt sich vieles unerreicht und unausgesprochen an, was hätte sein können. Musikalisch bleibt es ein herber Verlust, persönlich ist es eine Tragödie. Ruhe in Frieden, Giwar.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
122 Kommentare mit 36 Antworten
üff, hatte Xatar-Album gar keine Review?
free xatar
Nix, wer mit allen Chancen dieser Welt freiwillig zum Obergangster wird und darauf auch noch stolz ist hat noch nichts kapiert. Xatar braucht die Zeit im Knast um hoffentlich wieder zu einem brauchbaren Teil der Gesellschaft zu werden, zu büßen und sein Leben neu auszurichten.
Dass Nr. 415 von laut.de als Meilenstein gewertet wird, ist mutig – aber durchaus nachvollziehbar, wenn man das Album im zeitgeschichtlichen Kontext sieht. Xatar hat damit nicht nur seine eigene Biografie kunstvoll verarbeitet, sondern auch den Sound und das Selbstverständnis von Straßenrap in Deutschland geprägt.
Klar, aus heutiger Sicht wirkt das Album stellenweise roh, sample-lastig und technisch nicht auf dem Level späterer Produktionen. Aber gerade diese Unmittelbarkeit, gepaart mit echter Milieuzeichnung und stilprägender Delivery, hat das Fundament gelegt für viele, die später kamen.
Ein Meilenstein muss nicht makellos sein – er muss Maßstäbe setzen. Und Nr. 415 hat das für den Straßenrap in Deutschland ganz sicher getan. Ob’s jedem gefällt, steht auf einem anderen Blatt – aber die Wirkung ist schwer zu leugnen.
Man darf Rohheit auch gut finden. Mir ist so ein Garagensound lieber als jede topmoderne Überproduktion, aber das ist eine Geschmacksfrage bei der sich die Geister natürlich immer scheiden werden.
Waschechtes, authentisches Gangsta Rap Album, verdienter Meilenstein.
Ach du Scheiße, das ist doch kein Meilenstein der Musikgeschichte. Laut macht sich komplett lächerlich.
Hier kann man mal ausnahmsweise stattgeben, dass der Entstehungskontext zum Wert des Kunstwerkes beigetragen hat.