laut.de-Kritik
Kreuzfeuer im Hauptprozessor.
Review von Philipp KauseAlltagspsychologe Michael Patrick Kelly hat wieder zugeschlagen und legt Pop-Rock mit kurzer Zündschnur vor. Die Songs auf "Traces" pflegen zumeist flache Spannungsbögen und 'Achtung-gleich-mitklatschen!'-Harmoniekurven. Der Tiefpunkt des Arena-Gezappels ist wohl bei "Got Your Back" erreicht. Ein Reigen voller verschiedenartiger Feuerzeug-Schwenk-Balladen folgt danach und durchzieht das letzte Album-Drittel. "The Day My Daddy Died" versucht sich in Andacht und Andeutung einer Kirchenorgel und widersteht der Versuchung einer Mitsing-Vorlage fürs Stadion dann nicht. "Healing" lobt Tränen und sieht in jeder Träne einen Grund.
Bis man dort mitweint, findet aber zum Einstieg erst einmal der Grundkurs Mental Health statt. "Let your troubles run free", lässt der Singer/Songwriter von einer Art Marschtrommelorchester aus dem Sequencer unterlegen, in "Run Free": "Lass deinen Sorgen freien Lauf"? Dafür hört sich die Musik recht vehement an und nicht nach freiem Lauf, sondern nach Einpeitschen und der Freiheit eines Getriebenen. Michael Patrick Kelly wird gerne als verständnisvoll wahrgenommen, weil er seine Fans glauben lässt, dass seine Zeilen von der Originalität eines Illustrierten-Horoskops aus persönlich erlebten Schicksalsschlägen resultierten.
Das Narrativ: Wenn er sich unter trockenem, Modern Rock-verwandten Sound bis zu hymnischen Refrains tragen lässt, die meistens zu früh einsetzen und jeden Cliffhanger vorschnell abwürgen, dann gilt er als vitaler Retter in der emotionalen Not. Manchmal hat das Ganze dann doch Hand und Fuß. "All she needs is someone to say 'Keep hope alive'", konstatiert Kelly über eine Frau, die sich jeden Abend in den Schlaf weint und kaum die Tage durchhält, aber unter einer Fassade ihr Leid versteckt. Die zweite Strophe dekliniert ein ähnliches Verhaltensmuster für einen Mann durch: "He fights all the hurt inside, thinks his pain is a sign of weakness / so hard to be superman each day! / No light in his anxious smile - caught in shame, when the night is sleepless / all he needs is somebody to say 'Keep hope alive'."
Hall, Vocoder, Stakkato, Basketball-Kickdrum, La-la-lei-Mitsing-Hook, Empathie, simple, effektive Lyrik, tief melancholische Grundstimmung - der Song platzt schon fast, so prall an clever kombinierten Bauteilen ist er aufgeblasen. Es fehlt nur noch ein Hinweis, dass es sich bei den Lyrik-Persona um Kinder handele, dann hätte man hier eine Art zweites "Luca" nach Vorbild Suzanne Vegas. Zugegeben, dieser kompakte Electro-Pop funktioniert perfekt. Denn jeder kennt Menschen, die alle Probleme in sich hinein fressen und deren Stolz oder Angst es nicht erlaubt, sich jemanden zum Reden zu suchen, oder die wirklich niemanden kennen, der sie 'empowern' würde. Da trifft der 47-Jährige einen Nerv. (Möglicherweise ist das auch ein deutsches Problem in einer Gesellschaft, die sich über Wettbewerb und mittlerweile komplexe Bewerbungsverfahren für ein paar Quadratmeter Wohnraum definiert.)
Doch wie sagte schon ein gewisser Xavier Naidoo: "Was wir alleine nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen." In Paddys Worten heißt das: "We walked together unafraid", zu finden im Song "Crossfire" über zwei Zusammengeschweißte, die in ihrer Gemeinschaft immun gegen Gefahren waren, bis es sie auseinander bröselt. "Kreuzfeuer" ist ein dick auftragendes Bild, so etwas liebt MPK, und es treibt ihn ins Falsett. Naidoo fuhr einst fort: "Es liegt noch was vor uns / das Leben liegt vor uns. / Spürst du die Vorhut? Aufkommenden Frohmut?" Und ungefähr so textet Michael Patrick Kelly nun auf Englisch. "Dabei kommt er mit einem Lebensthema zurück, das bei ihm schon der Hauptprozessor vieler großer Songs war: Menschlichkeit", weiß der Verkaufstext auf Amazon. Guck an, das Humanitäre lagert jetzt im "Hauptprozessor".
Zum Empowern dient in "Healing" die unfassbar häufig wiederholte Line "you're beautiful". Mit der hier unterlegten Melodie und dem Timbre, in dem Kelly trällert, ist es schwierig, nicht dauernd an James Blunt zu denken. Verblüffend wirkt es, wie das Arrangement von "Glorious" ein Mash-Up aus Ashcrofts "Bitter Sweet Symphony" und Robbies "Angels" suggeriert, ohne deren Melodien, aber mit deren Aufbau, und wie sich eine wilde Gospel-Queen auf dem Gipfel des Geigen-Pathos im Ad Lib verewigt. Da kann nur noch ein Caruso kontern, und so setzt eine italienische Arie mitten in der "Symphony Of Peace" ein. Es intoniert Jonas Kaufmann, vielseitig eingesetzter und europaweit bekannter Tenor und aktuell Intendant der Tiroler Festspiele.
"Wildflower", auch ein La-la-lai-Lied, hätte man N*Sync in ihren besten Zeiten für eine Tanz-Choreographie vorlegen können. Milky Chance könnten diese Handclap-Wackel-Folktronic gewiss so covern, dass es nicht auffiele. Wer es lieber akustisch möchte, findet im sündhaft teuren 6 LP-plus-CD-Set eine Doppel-Vinyl mit allen Songs in Acoustic Versions. Übrigens stehen neben La-la-lai auch noch Lai-lai-lai (feiner Unterschied!) in "Healing" sowie "Wildflower" zum Mitsingen zur Verfügung und Ale-ale-alelujah in "Calcutta Angel" - Lo-ho-oh nicht zu vergessen in einem weiteren Tune. Karaoke-Bars können sich freuen, denn mit "Traces" dürften langfristig die Kassen klingeln.


1 Kommentar
Bei dem Cover muss ich sofort an "The Cell" mit Jennifer Lopez denken. Kennt den jemand? Ich war damals total überrascht, weil ich der Jenny vom Block so einen Film überhaupt mal gar nicht zugetraut hätte.