laut.de-Kritik
Raffinierter Untergrund-Techno: Pulsierend, sexy, roh.
Review von Johannes JimenoDer gute Alex Ridha ist ein umtriebiger Kerl. Er spielt nicht nur zig Live-Shows, produziert eigene Alben, befeuert den Berliner Untergrund, konzipiert feine Remixes, sondern er hat auch noch Zeit für Nebenprojekte mit namhaften Kollegen, wie beispielsweise Chilly Gonzales ("Octave Minds"), Mr. Oizo ("Handbraekes") oder Skrillex ("Dog Blood"). Zudem schmückt er sich seit diesem Jahr mit einem Grammy für Lady Gagas "Rain On Me". Da vergisst man beinahe, dass sein letztes Studioalbum "Mayday" schon fünf Jahre auf dem Buckel hat.
Boys Noize betitelt sein neues Werk "+/-" und wird "Polarity" ausgesprochen. Thematisch dreht sich alles um diametral gegenüberliegende Positionen und deren Zusammenspiel. Aus Gegensätzlichem entsteht etwas ganz Besonderes, so zumindest der Grundgedanke. Dafür hat er sich nicht nur musikalisch etwas ausgedacht, sondern auch künstlerisch, indem er mit dem Künstler Eric Timothy Carlson, Designer von Bon Ivers "22, A Million", an den Artworks und Cover zusammenarbeitet. Ob die obskuren geometrischen Formen, wilden Farbspektren und kryptischen Symbole wirklich einen Mehrwert bieten, sei dahingestellt. Am Mischpult zeigt Ridha wieder einmal sein ganzes Können.
"+/-" stellt endlich den würdigen Nachfolger seines immer noch zeitlosen Debüts "Oi Oi Oi" dar hinsichtlich Coolness, schroffer Eleganz und unwiderstehlicher Tanzbarkeit. Mit vielen eher unbekannten GastsängerInnen, darunter der estnische Konzeptkünstler Tommy Cash, sorgt er inmitten seiner maschinellen Klangwände für Menschlichkeit, seien die Tracks noch so fordernd und polternd. Gegensätze ziehen sich eben an.
Boys Noize schöpft aus diversen Genres und beweist damit einen vorzüglichen Eklektizismus, an dem sich andere DJs ein Beispiel nehmen sollten. Wie so oft verwurzelt im Rave der 90er, mixt er 80er-Pop-Anleihen, UK Garage, Techno, Wave, House und Trance meisterhaft miteinander. Insbesondere wie groovy, druckvoll und wertig das aus den Boxen dröhnt, begeistert ein ums andere Mal.
Seine Lässigkeit demonstriert er bei den, zumindest für seine Verhältnisse, entspannteren Songs wie "Love & Validation" oder dem verschrobenen Darkwave "Affection". Sogar laszive Sexyness gibt es zu bestaunen beim dreckig pulsierenden Dark-Techno "Girl Crush" oder dem ravigen "All I Want" mit unverschämt geiler Bassline und der Stimme von Jake Shears, dem Frontmann der Scissor Sisters. Na, wer kennt die noch?
Am geschmeidigsten gerät der Titeltrack "Polarity", wenn dissonante Klänge des Untergrund-Techno mit dem entspannten Gesang von Ghost Culture harmonieren und sich die Zeile "Analog, digital / Sample, original" wie ein Mantra durchzieht. Richtig fiese Acid-Techno-Banger serviert uns der Berliner natürlich ebenfalls. "Greenpoint" punktet mit viel Experimentierfreunde und Industrial Punk, "XYXY" fetzt ganz leger im Club, und das bissig-spacige "Detune" beherbergt seine Trademark-Vocal-Snippets. Im verrückten "IU" ballert der Beat anders böse neben dem seltsam genuschelten Gemurmel des Sängers Corbin. Das sirenenhafte "Sperm" stampft unerbittlich roh und kantig zu exotischen Melodien.
Irgendwann endet jede noch so gute Party, den Rausschmeißer mimen die zwei schwachen Abschlusssongs. Die sich erst spät entfaltende, kratzige House-Nummer "Ride Or Die" und die von breiten Synthies getragene elektronische Ballade "Act9", die im Gegensatz zum Rest an Beliebigkeit krankt. Somit verlässt man nach gut einer Stunde zufrieden und verschwitzt die Tanzfläche und erfreut sich daran, dass Boys Noize mit "+/-" ein gelungenes Album präsentiert und seine Raffinesse an den Reglern erneut zur Schau stellt.
8 Kommentare mit 6 Antworten
"+/-" stellt endlich den würdigen Nachfolger seines immer noch zeitlosen Debüts "Oi Oi Oi" dar hinsichtlich Coolness, schroffer Eleganz und unwiderstehlicher Tanzbarkeit."
Zu der Zeit auch live erlebt. War schon ein herrlich geiler Abriss. Ich höre mal rein.
War auch einer meiner schwitzigsten Clubbesuche ever.
Hab den totgefeiert so um 2009 rum. Innovativ der boi
Wusste gar nicht, dass das ein posthumes Album ist. Danke für die Aufklärung.
Was ist hier los? Ist das eine Freaky Friday Situation? Seid ihr zufällig zusammengestoßen und habt dabei die muppets vertauscht?
Jaja, wir sind heute mal etwas freaky. Ist ja auch Altweibersommer.
Bin noch nicht ganz durch, aber das ist definitiv keine Musik am minimalsten Ende der Begriffsdefinition. Frische, unberechenbar brutale Abrissbirnen.
Der Typ hats echt druff
Technisch passt alles. Aber ich sehe hier nix freshes, keine sexyness. Und wo da eine Abrissbirne stecken soll, ist mir auch unklar. Tut halt niemandem weh der boi.
Album läuft. Knackiges Ding. Live-Abriss dann hoffentlich nach Corona.