laut.de-Kritik
Depeche Mode-Platten enttäuschen nie? Tja.
Review von Michael SchuhDas Tolle an neuen Depeche Mode-Platten ist ja: sie enttäuschen nie. Depeche Mode gleich Martin Gore gleich "Everything Counts", "Enjoy The Silence", "Dream On". Für jede Dekade sucht und findet der Mann für uns den richtigen Ton. In London, in Berlin und nun in Santa Barbara. Für immer? Nö. Ab heute heißt es umdenken, meine lieben Damen und Herren über dreißig.
Nichts weniger als eine Regierungsumbildung fand statt im Elektropop-Lager, und zwar mit allem Drum und Dran: Polternde Protagonisten, Sechs-Augen-Gespräche, gekränkte Eitelkeiten, hässliche O-Töne. Da es im Gegensatz zur großen politischen Bühne im millionenschweren Trendsetting-Unternehmen Depeche Mode um ein Haar gar nicht weiter gegangen wäre, steht man dem Nachfolger von "Exciter" (2001) nun fast ein bisschen ehrfürchtig gegenüber. Sie habens tatsächlich noch mal getan. Allerdings in einer großen Koalition: Gahan, das Rauhbein, und Gore, der Zartbesaitete. Wird nun etwa alles noch besser? Eigentlich lief es ja vorher schon super, trotz (bzw. wegen) Diktatur. Doch hilft alles nix, Sänger Dave Gahan hat den Machtkampf gewonnen und erhielt erstmals für drei Depeche Mode-Songs Credits.
Wie jedes Album der Gruppe birgt auch "Playing The Angel" echte Überraschungen. Erstens: Die schlechtesten drei Songs sind keineswegs die des Komponisten-Neulings. Zweitens: Solche niederen Arbeiten übernimmt jetzt auch mal der alte Duz-Freund Martin. Drittens: Depeche Mode wiederholen sich und recyclen sogar schon alte Sounds ("A Pain That I'm Used To" - "The Dead Of Night"). Uff. Aber der Reihe nach: Schon die Tracklist klingt ja bedrohlich und hätte manch anderer Band bereits vorab den Todesstoß versetzt. "Suffer Well", "The Sinner In Me", "The Darkest Star" ... mal ehrlich, hätten De/Vision das gebracht, es wäre der Lacher des Jahres gewesen. Depeche Mode hingegen sind Native Speaker, dürfen das also, dürfen ohnehin alles (bei mir ja auch).
Stichwort Gewaltenteilung, zunächst also der ultimative Fantest. Von wem kommt was? Nach einmaligem Hören lege ich mich fest: Von Gahan muss "Suffer Well" stammen, klarer Fall, hätte auch auf "Paper Monsters" sein können, außerdem das für Gore-Verhältnisse zu nachlässige Pop-Stückchen "Lilian" und der nette Opener "A Pain That I'm Used To", alleine der Titel, klar Gahan, vielleicht bezieht der sich ja sogar auf Gore. Hihi.
Zweimal falsch. "Lilian" und der Opener rutschten Herrn Gore aus der Feder, Gahan fabrizierte neben "Suffer Well" noch "I Want It All" und "Nothing's Impossible". Keine Ahnung, inwieweit ich mich hier gerade in Fachidiotengestammel verheddere, aber dies sind eben auch gewichtige Erkenntnisse bei einer Band, die in über 20 Jahren so gut wie nie wirklich etwas falsch gemacht hat, dafür seit 1987 mit Hallenkonzerten nicht unter 10.000 Zuschauern belohnt wird und nun - leicht - vom rechten Weg abgekommen ist. Damit wir uns richtig verstehen, "Playing The Angel" ist keine schlechte DM-Platte, aber man muss sie im Kontext bewerten. Erst im Lichte des neuen Materials wird deutlich, wie geschlossen und experimentell die Alben der Band trotz der heraus stechenden Singles immer gewesen sind, und wie mutig beispielsweise gerade "Exciter" war.
Genau jenes Album schnitt bei vielen Hardcore-Fans interessanterweise weniger gut ab, und es dürften auch genau jene sein, die "Playing The Angel" heute in die Tradition der Weltalben "Violator" (1990) und "Black Celebration" (1986) stellen wollen. Meine bescheidene Meinung ist, dass schon die Vorabsingle "Precious" 1990 höchstens eine B-Seite gewesen wäre. Und nur weil sich Gore die Fingernägel wieder schwarz lackiert und die Band erneut alte Analog-Synthies benutzt, entsteht noch kein organisches Album der Marke "Black Celebration". In der Tat aber ist das neue Werk das lauteste seit langem. Der Opener umschmeichelt uns mit dem seit "Ultra" bekannten, sachte blubbernden Elektronikuntergrund, der im Refrain von rüden Kopfnicker-Riffs abgelöst wird, live garantiert eine Bank.
Ebenso der finstere Technoklopfer "John The Revelator", einer der besten neuen Songs, in dem Gahan gesanglich mal wieder alles aus sich heraus holt. Ein Brocken von einem Song, dem die vom Elektro-Kulthit "Space Invaders Are Smoking Grass" geklauten Refrain-Akkorde übrigens sehr gut zu Gesicht stehen (Respekt Herr Gore, die Techno-Plattensammlung scheint zu stimmen!). Der religiöse Titel deutet dabei schon an, wie sehr sich Gore wieder existenzieller Thematiken bedienen muss, um seiner Gefühlswelt angemessen Ausdruck zu verleihen.
"How sweet life would be / if I could be free / from the sinner in me", heißt es im dritten Song. Man könnte beinahe Mitleid bekommen mit Gore, dem die Erziehung zweier Töchter im sonnigen Kalifornien mehr abzuverlangen scheint als man dachte. Musikalisch steht der Song exemplarisch für das Soundbild des Albums, an allen Ecken und Enden feept, bleept und knarzt es, ganz so, als würden alle Bandmitglieder noch wie 1983 auf der Suche nach Geräuschen mit dem Sampler in Eisenbahntunnel rennen. Der Hauch alter Industrial-Zeiten umweht auch das von Gore gesungene "Macrovision", wenn nach drei Minuten plötzlich Dampfhammer-Drums in die bebende Suizidelegie herein brechen.
Mit seiner zweiten Ballade "Damaged People", deren Sounds endgültig an das Album "Construction Time Again" zurück erinnern, fasst Gore dann seine gesamte Kunst zusammen: "When you're by my side / there is no defense / I forget to sense / I'm dying." Der Schwermut und die Tragik, auf der ihre ganze Karriere letztlich aufbaut, scheint aus dieser einfachen Zeile heraus zu kriechen und die Melodie, ja, die klingt tatsächlich etwas nach der guten alten "Black Celebration"-Zeit. Besser geht es kaum.
Absurderweise stoppt ausgerechnet Gahans Komposition "I Want It All" die Gedanken-Jukebox. Zart-gebrechliche Akkorde, die auch The Cure aufnehmen würden, versetzen den Hörer in einen Schwebezustand. Hier braucht es keine überambitionierten Lärmkaskaden, um Atmosphäre zu erzeugen. Mit dem programmatischen "The Darkest Star" entsteigen Depeche Mode schließlich den Untiefen der Seelenpein, von Chören und lasterhaftem Piano-Stakkato begleitet. "I don't want you to change / Anything you do / I don't want you to be / Someone else for me", fleht Gahan.
Für diejenigen Fans, die sich auch gewünscht haben, dass sich die Band nicht ändert, nicht eine Stufe höher steigt in der elektronischen Evolutionsgeschichte, ist "Playing The Angel" ein prima Album. Tanzbar, traurig, krawallig. Alle Vorzüge endlich mal auf einer Platte. Doch "Playing The Angel" ist eben auch erstmals kein ausgewogenes Werk mehr und klingt in Teilen wie das Album einer Band, die die Termine ihrer Welttournee bekannt gibt, noch bevor ein Titel für das Album gefunden ist. Apropos, wir sehen uns in Friedrichshafen, Jungs. Dort würde ich dann gerne mal "Lie To Me" hören.
91 Kommentare
So! Außer ein paar Soundschnipseln auf der Seite von Woolworth (http://www.woolworths.co.uk/ww_p2/product/…) und der Single Precious gibt es noch nicht viel Offizielles zum neuen Studioalbum von DM. Klar, die Playlist steht:
1.A Pain That I'm Used To
2.John The Revelator
3.Suffer Well
4.The Sinner In Me
5.Precious
6.Macro
7.I Want It All
8.Nothing's Impossible
9.Introspectre
10.Damaged People
11.Lilian
12.The Darkest Star
14. Oktober ist Erscheinungstermin, natürlich gibt es das Album schon im Netz in illegalen Tauschbörsen, was traurig ist. Ich will jetzt aber nicht die alte Download-Diskussion ausgraben, sondern einfach nur wissen, was ihr von den neuen Songs haltet. Mir persönlich gefällt das neue Album sehr gut. Die Soundfiles, die ich gehört habe, übertreffen "Exciter" meiner Meinung nach bei weitem, aber vielleicht seht ihr das ja anders...
Hab noch gar nichts gehört. Bin aber auch gespannt.
Meinst du mit Soundfiles eben jene Files aus den illegalen Tauschbörsen, oder beruht dein Urteil "gefällt mir sehr gut" nur auf dem Anhören der Samples?
Auf Letzteres, da ich es mir abgewöhnt habe, Alben herunterzuladen!
Precious gefällt mir viel besser als Dream on als erste Single vom letzten Album. Ich fühle mich bei dem Song ein wenig an Enjoy-the-Silence-Zeiten erinnert, insofern hoffe ich auf den Rest des Albums. Das letzte Album war nicht nach ganz meinem Geschmack. Die Albumversion von Free Love auf Exciter war furchtbar, I Feel Loved war dafür ein echter Knaller!
allein für nothings impossible schon 5/5
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
"Pain and suffering in various tempos"
Nach den digitalen Klangwelten von "Exciter", die eine klinisch reine Brillianz ausstrahlten, änderten Depeche Mode die musikalische Grundformel 4 Jahre später erneut grundlegend mit einer Rückkehr in eigene Abgründe. Die schwebend leichten Wogen des Vorgängers wurden eingetauscht gegen prägnante Gitarreneinsätze, Übersteuerungen und analoge Tonstrukturen. Die persönlichen Texte, an denen Dave Gahan zum ersten Male selbst mitgearbeitet hatte, sind durchzogen von fortlaufendem Pessimismus und geben einen tiefschürfenden Einblick in die heroininfizierte Hölle aus welcher der Protagonist entkommen konnte, ohne sich von seiner Nemesis je vollständig lösen zu können.
Ein unterschwelliger Schmerz ist steter Wegbegleiter des zerbrechlich wirkenden Albums. Die Songs verströmen melodische Dynamik ("Suffer Well"), führen über schleppend-pulsierende Synthesizerwälle ("The Sinner in Me") hin zu instabilen Fragmenten elektronischen Kleinods ("Damaged People"). Die Themenfelder sind Isolation und zwischenmenschliche Komplikationen, besonders fühlbar im mit gläsernen Klängen versehenen "Precious" und dem dunklen "I Want It All", dessen stoischer Takt den Song gen Ende hin in einen hypnotischen Tiefenrausch befördert.
Hoffnung keimt zumindest in textlicher Form im schwermütig inszenierten "Nothing's Impossible", dessen nichtlineare Verzerrung eine bemerkenswerte Sogwirkung entfacht und im lebhaften "Lillian" auf. Zwischendurch schwebt das instrumentale "Introspectre" schwer über den Gewässern der Pain wie eine Drohung und trägt so zur sinnierenden Atmosphäre bei, die sich im Closer "The Darkest Star" dank Überlänge genüßlich ausbreiten kann. Gahans stimmliche Leistungen sind konstant auf hohem, eindringlichen Niveau und spiegeln die jeweilige Gemütslage der Stücke unvergleichlich wieder, auch Martin Gore hält den Pathos im Zaum.
"PTA" ist ein aufwühlendes Stück edler Musik, das einen Trip durch die diffusen Gefühlswelten der Akteure zu exzellent produzierter Untermalung ermöglicht und trotz seines jüngeren Alters einen festen Platz in der ruhmreichen Diskografie innehat.
5/5