laut.de-Kritik

Graziler Spagat zwischen Mainstream und hippem Underground.

Review von

FKA Twigs macht auf Langspieler da weiter, wo ihre zwei herausragenden EPs aufhörten: mit enorm individualstilistischer, hochsophistizierter R&B-Elektronica. Die baut inhaltlich ganz auf den sinnlichen Dualismus Liebe/Sex. Die einnehmende britische Chanteuse entspringt jenem unwahrscheinlichen Genpool, der aus einer Kollision von Björk, Afrofuturistin Janelle Monáe und Leftfield-Synthetikerin Inga Copeland irgendwo in Outer Space entstanden ist.

Vorneweg: ein Crossover mit Album-des-Jahres-Potenz. Wie genannte Referenzen bereits andeuten, gelingt Tahliah Barnett alias Twigs auch auf Albumlänge der grazile Spagat zwischen Mainstream und hippem Untergrund. Die Londoner Balletttänzerin und Operninterpretin mit jamaikanisch-spanischen Wurzeln wagt sich in Gefilde vor, die selbst die elektronisch aktualisierte Beyoncé niemals betreten würde.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Ellipse: Sexuell aufgeladene Stille, Gesangspausen und ächzende Vocalloops kreieren die Songdramaturgie. Mit ihrer ätherischen Trip Hop-Stimme, in der stets ein Hauch kunstvoller Liebes-Naïveté durchklingt, schafft Barnett jede Menge surreale Atmosphäre. Das Spektogramm veranschaulicht, wie sie sich immer wieder von Flüstereien über Harmoniegesang mit sich selbst zu schönsten Artpop-Regenbogenmomenten aufschwingt.

Insbesondere die herausragenden Tracks "Two Weeks", "Pendulum" und "Give Up" zeigen auf, zu welch sehnsüchtigem Überschwang sie im Zusammenspiel mit den elektronischen Abstraktionen ihres Produzenten Arca in der Lage ist. Exotische und dissonante Synths, sexy Downtempo-Bässe, Afropop-Gitarrenpicking, die gestauchten Hi-Hats des Trap, die Halleffekte und Screwed Sounds des Witch House - der "Yeezus"-Co-Produzent webt stets unberechenbare Kontrapunkte.

Die lustvollen Gänsehaut-Erzählungen der Jetzt-schon-Zeitgeist-Ikone verhalten sich dialektisch zu seinen experimentellen, distanzierenden Geräuschkulissen. Lediglich beim sehr experimentellen IDM-Titel "Numbers" überdecken Arcas Beatkonstrukte ein wenig Barnetts Präsenz. In jedem Fall wirkt "LP1" dank ihm und Twigs' knisternder Stop'n'Go-Sirenenhaftigkeit nie glatt oder gar cheesy. Damit umgeht das Gespann eine der wohl größten Falltüren des R&B und befriedigt den Ereignishunger der digitalen Musikkonsumkultur.

Im übrigen entspricht auch die Chronologie der Musikvideos der konzeptionellen Abfolge von Minimal nach Maximal. Die scheinbaren One-Takes zeigten zu "EP1" zunächst noch 3D-Animationen, den unkonkreten Körper beim selbstverlorenen Tanz und Detailstudien von Bäuchen. Auf "EP2" gab Barnett bereist mehr von sich preis. Unter anderem wurde auf Twigs' sehr charakteristisches Gesicht scharfgestellt. Sodann enthüllte die erste Albumsingle "Two Weeks" ihren physischen Körper als surreale Videokunst-Gottheit, nicht ohne ihn sogleich mythologisch neu zu chiffrieren.

FKA Twigs studierte Modedesign, Performance und Videoclip-Geschichte. Aufgrund ihrer einzigartigen Ästhetik findet sie nicht nur in sämtlichen relevanten Musikmagazinen, sondern auch in der Vogue statt. Das Gesamtkonzept ist also zweifellos durchgeplant, selbst wenn Barnett das Stigma des Kontrollfreaks von sich weist. Die Popwelt kann indes nur auf weitere mutmaßlich zwangsneurotische Künstler wie Twigs hoffen. Zumindest, wenn das Resultat solch abgedunkelter, futuristischer Avant-R&B ist. Jetzt darf ich es ja sagen: Album-des-Jahres-Potenzial verwirklicht.

Trackliste

  1. 1. Preface
  2. 2. Lights On
  3. 3. Two Weeks
  4. 4. Hours
  5. 5. Pendulum
  6. 6. Video Girl
  7. 7. Numbers
  8. 8. Closer
  9. 9. Give Up
  10. 10. Kicks

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