laut.de-Kritik
Wiedergeburt in eine mystische, aber gedrosselte Welt.
Review von Ben SchiwekDie Phrase des "persönlichsten Albums bisher" ist mittlerweile so ausgelutscht und wird oft nur für Vermarktbarkeit daher gesagt. Bei Florence + The Machine ging es bisher immer persönlich zu, dennoch spiegelt sich in "Everybody Scream" die Verletzlichkeit noch klarer in der Musik. Was nicht heißen soll, dass es ein reduziertes, ruhiges Album geworden ist. Im Gegenteil: Es geht wieder geradezu symphonisch zu, Harfen und epische Chöre erklingen. Aber diese barocke Folk-Horror-Ästhetik, musikalisch und visuell, passt zu den Themen des Albums. Heilende Rituale, Rückbesinnung zur Natur, Hexerei, all das ist kein Cosplay, sondern kommt als Reaktion auf einschneidende, persönliche Ereignisse.
Florence Welch musste infolge einer Eileiterschwangerschaft eine lebensrettende Operation durchstehen. So nah am Tod zu sein, insbesondere im Kontext einer Schwangerschaft, warf Themen der Vergänglichkeit und der Wiedergeburt auf. Zu heilen verband sie wieder mit ihrer persönlichen Stärke, was sich weitergesponnen auch im Female Empowerment einiger Songs hier widerspiegelt. Und dazwischen steckt natürlich, wie soll es auch anders sein, wie immer das Thema: "And Love" – aber nur beiläufig, die anderen Themen dominieren.
"One Of The Greats" ist so explizit bissig und sarkastisch, wie wir Welch selten gehört haben. Stolz singt sie über ihre Rückkehr von den Toten, reflektiert Ruhm und das Patriarchat und liefert Kommentare wie "It must be nice to be a man and make boring music just because you can". Währenddessen baut sich über sechs Minuten Spannung auf, in der Welchs Frust spürbar ist.
Ebenfalls aufregend neu ist "Drink Deep", ihr vielleicht mystischster Song bisher. Hypnotisch umkreist Welch die Vokale im Refrain, während riesige Pauken und Chöre hinter ihr stehen. So klingt das nicht nach lächerlicher Mittelalter-Markt-Nummer, sondern als würde sie tatsächlich in einer holzigen Taverne ihren Heiltrunk trinken. Das Projekt geht neue Experimente ein, poppige Tracks wie "Shake It Out" oder "What Kind Of Man" findet man hier nicht. Stattdessen haben Songs wie "Witch Dance" dynamische Tempowechsel und wandeln sich stets.
Das ist eine willkommene Abwechslung, allerdings zünden manche Tracks auch nicht so richtig. Nicht melodisch catchy genug, um im Ohr zu bleiben, aber auch nicht experimentell genug, um vollends in die mystische Welt zu entführen. Da hätte man ruhig noch mehr auf die Mainstream-Erwartungen pfeifen können – oder sich halt wieder für ein Pop-Album entscheiden. Stattdessen wirkt "Sympathy Magic" wie eine blasse Version ihrer früheren Alben. Und "Buckle" ist eine simple Akustik-Nummer, die nichts so richtig beiträgt und mehr wie eine Lucy-Dacus-B-Seite klingt, die Welch zugeschoben wurde.
So schön organisch und vielfältig viele Songs instrumentiert sind – und das ist sicherlich eines der besten Dinge an "Everybody Scream" –, so scheint das Mixing dem Sound doch nicht genug Raum zu geben. Wäre der Mix nicht so flach, würde vieles hier sich immersiver anfühlen. "One of the Greats" und "You Can Have It All" sind zwar Highlights, aber ihre großen Crescendo-Höhepunkte könnten noch intensiver knallen, wenn da nicht so viel verschwimmen würde.
Dennoch muss zum Schluss ein Lob auf "You Can Have It All" ausgesprochen werden. Als "Swans vs. Adele" bezeichnete Welch den Song in einem Instagram-Post, und irgendwie passt das: Die unheimlichen Chöre klingen ziemlich genau wie aus Swans' "It's Coming It's Real", und Welchs Stimme im Refrain ist so gigantisch wie Adele in ihren besten Momenten. Welch singt von einem Schrei, den sie im Garten vergrub und aus dem ein großer Baum wuchs – jahrelange unterdrückte Gefühle, die nun stolz überschäumen. Ein Mittelfinger gegen die Phrase, die Frauen gesagt wird, obwohl sie in vielen Bereichen benachteiligt werden: "You Can Have It All". Und diese simple Zeile schreit Florence in einem riesigen Refrain heraus – ein großer Moment gegen Ende des Albums, nur leider wie gesagt: irgendwie gedrosselt. Der Scream des Albums könnte lauter sein.


1 Kommentar
3 Sterne sind zu wenig. IMHO das beste Album von Florence and the Machine. Habs auf Dauerrotation.