laut.de-Kritik
More Numan than human: Der erste Synthesizer-Popstar.
Review von Michael Schuh"Pop" steht mit fettem Edding auf dem riesigen Aufkleber geschrieben, der genau neben dem Kopf auf die Plattenhülle geklebt wurde. Und weil man den Stift vorher offenbar noch testen musste, wurden gleich noch drei schwarze Striche quer übers Cover gezogen. Nicht gerade ein optisches Erscheinungsbild, nach dem sich Vinyl-Fans die Finger lecken, aber ich stehe auf einem Flohmarkt, wo man in Grabbelkisten von Gary Numan sonst maximal Schrott-LPs wie "The Fury" vorgesetzt bekommt und nicht edle Perlen wie "The Pleasure Principle", das in meiner Sammlung noch fehlt. Keine zehn Euro will der verständnisvolle Verkäufer aus genannten Gründen, geht klar.
Ein Blick aufs Backcover hatte da längst gereicht, um zu erkennen, dass diese Vinyl-Ausgabe eine besondere Geschichte zu erzählen hat. Dort klebt eine Art Papierschuber als Halterung für Karteikarten, daneben ein weiterer Aufkleber mit haufenweise Datumsstempeln aus den Jahren 1984/85. Schließlich auf den beiden Schallplatten-Etiketten der alles erklärende Stempel des Besitzers: "Property of U.S. Army". In meinen Händen liegt also eine Numan-Platte, die sich in der Bundesrepublik stationierte US-Soldatinnen und Soldaten Mitte der 80er Jahre aus ihrer Armee-Bücherei ausleihen konnten und von diesem Angebot nachweislich regen Gebrauch machten.
Es ist eine schöne Vorstellung, wie sich US-GIs mithilfe der fremdartigen Electro-Sounds dieser Platte aus dem graudeutschen Alltag ihres Seefliegerhorsts zurück nach Hause träumten, auf den Lippen womöglich die Zeilen "I need my treatment / It's tomorrow they send me / Singing 'I am an American'" aus "Metal", während um sie herum die Furcht vor der Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen und einem potenziellen Atomkrieg beständig anstieg.
Im Genre Pop allerdings hatten dem Briten 1985 einstige Numan-Fans wie Depeche Mode oder OMD längst den Rang abgelaufen, und in seinem dringenden Bedürfnis, zu ihnen aufzuschließen, veröffentlichte er haufenweise kraftlose Alben wie "The Fury". Und während US-Streitkräfte gebannt diesem Außerirdischen auf "The Pleasure Principle" zuhörten, kleidete sich Numan in Yuppie-Sakkos, schwärmte in Interviews von seinem Luftfahrt-Hobby und investierte die Kohle der frühen Jahre - kein Witz - in Militärflugzeuge.
Gary Numan ist einer dieser Künstler, die so massiv viele Platten unterschiedlicher Qualität veröffentlicht haben, dass man als Außenstehender keinen Schimmer hat, welche nun wirklich wichtig und welche vernachlässigbar sind. Aus diesem Grund wurde übrigens irgendwann mal auf dieser Musikseite die Meilenstein-Rubrik ins Leben gerufen, für die ein Kollege aus einem einzig ihm selbst plausiblen Grund Numans 1981er Album "Dance" vorgeschlagen hat. Ein Album von nachweisbar spröder Eleganz, das als Krönung von Numans Schaffen aber so fehl am Platze ist, als würde man "The Wall" als das größte Werk von Pink Floyd bezeichnen.
Geht es um Numans Impact, kommt man an den Überalben "The Pleasure Principle" und "Replicas" - beide 1979 veröffentlicht - nicht vorbei. Fragt man Trent Reznor, käme sogar noch "Telekon" von 1980 in Betracht. Zusätzlich verwirrend ist die Tatsache, dass Numan zunächst zwei Alben unter dem Namen The Tubeway Army veröffentlichte: Das selbstbetitelte Debüt, ein Amalgam aus New Wave und Punk, und das zweite - "Replicas" - dank deutlicher Moog-Schlagseite und dem Hit "Are 'Friends' Electric?" bereits groundbreaking. Dennoch besorgte sich dieser rätselhafte Gary Webb nach seinem ikonischen Tubeway Army-Auftritt bei "Top Of The Pops" in den Gelben Seiten einen neuen Künstlernamen und zeigte mit der Single "Cars" den noch auf der Suche befindlichen The Human League, aber auch Kraftwerk und zukünftigen Leitfiguren wie Daniel Miller, was bis dahin undenkbar schien: Dass man mit rein elektronischen Tracks durchaus die Charts aufmischen kann.
"When The Machines Rock" hieß ein Song noch auf "Replicas", und genau so startet auf vorliegendem Album "Airlane": Das eisige Synth-Instrumental erhält weiterhin Support von Numans alten Punk-Kollegen Paul Gardiner (Bass) und Cedric Sharpley (Drums), sämtliche Leadmelodien kommen aber aus dem Synthie. Zusammen mit dem androgynen Image und den dystopischen Science-Fiction-Texten entwirft der bleich geschminkte 21-Jährige hier ein Loner-Setting, das auf die junge Generation so anziehend wirkt wie Jahre zuvor bei seinem Idol David Bowie.
"The Pleasure Principle" setzt das Template für den erfolgreichen Synthie-Pop des Folgejahrzehnts, ausgedacht von einem schüchternen Londoner mit Asperger-Syndrom, der seine Eltern mit auf Tournee nahm und sich ausgerechnet auf der Bühne vor wildfremden Menschen, umgeben von seinem berauschenden Drone-Pop, am wohlsten fühlte. Manchmal kam ihm das selbst verdächtig vor: "Mein einziges Talent ist es, Geräusche aneinander zu reihen", reagierte er fast entschuldigend, obwohl ihm dieses Talent in Form der Single "Cars" zehn Millionen Käufer*innen beschert. Einem Song wohlgemerkt, der davon handelt, dass der Protagonist sein Auto deshalb liebt, weil er darin eingeschlossen vor Panikattacken sicher ist.
Für die progressive Idee, Popsongs auf rein elektronischer Basis zu entwerfen, haben Radiosender und Rockmusik-Journalisten 1979 wenig übrig. OMD-Sänger Andy McCluskey erinnerte sich in der BBC-Doku "Synth Britannia" mit Abscheu an die damaligen Vorbehalte: "Es war kein Rock'n'Roll, es war nicht ehrlich, nicht Working Class, nicht wertig, nicht erdig, nicht echt, nicht verschwitzt, nicht männlich, es war prätentiös und pseudo-intellektuell. Ich bin mir absolut sicher, dass Numans Karriere damals von boshaftem Musikjournalismus klein gehalten wurde."
Nicht klein genug allerdings, um über Jahrzehnte hinweg Acts wie Afrika Bambaataa, New Order, The Prodigy, Fear Factory, natürlich die Nine Inch Nails oder Daft Punk zu inspirieren, die sich sogar an Numans Pyramiden auf Artwork und Konzertbühne bedienten. In frühen Rapsongs tauchen Samples dieses Albums außerdem nicht seltener auf als die immer gelobten Kraftwerk.
Oft ein Schattendasein hinter "Cars" fristet das grandiose "Metal", bei dessen hämmerndem, wie für Exerzierübungen erdachten Synthriff es einem als gestandenem Rockmusiker tatsächlich bang um die eigene Zukunft werden konnte. Allzu oft vergisst man bei Numan, über seine Stimme zu sprechen, die irgendwo zwischen eindringlich und genervt einen sonderbaren Ton formt, der bis heute unkopierbar geblieben ist. "Complex" nimmt das Tempo raus und verstärkt die melancholisch-sedierte Stimmung mit einer Bratsche. Doch auch bei solch ruhigen Nummern ändert sich nichts an der paranoiden Grundstimmung: More Numan than human, eben. Beunruhigender klang davor höchstens der Moog-Soundtrack von "A Clockwork Orange".
Auch wenn manche Songs wie Variationen anmuten, so probt "Observer" etwa für die spätere Riffwalze "Cars", sie entfalten dennoch meist eine eigene Wirkung, selbst das mit siebeneinhalb Minuten etwas lang geratene "Conversation". Direkt nach dem Banger "Cars" fühlt sich "Engineers" zunächst etwas zahm an, wenngleich der monotone Grundbeat die unbehagliche Stimmung schnell evoziert und Numan textlich noch einmal seine Mensch-Maschine in Stellung bringt ("All that we are / Is all that we need to be / All that we know / Is you and machinery / We're engineers"). Für mich ein ähnlicher Vibe wie "Mass Production" am Ende von Iggy Pops "The Idiot".
In Deutschland schafft es "The Pleasure Principle" immerhin in die Top 50 der Albumcharts, ein Erfolg, den Numan erst über vier Jahrzehnte später mit "Intruder" toppt. 2024 ist eine Tour, auf der er die Alben "Replicas" und "The Pleasure Principle" am Stück spielt, binnen Minuten ausverkauft. In seinem Merchandise-Store liegen Aufkleber mit der Aufschrift "Gary Numan Is Here In My Car". Denn nach kreativen Dürrejahren geht es mit dem Briten seit Ende der 90er wieder bergauf. 2022 füllte er erstmals seit 1981 wieder Londons Wembley Arena, wenn auch nicht mehr in futuristischem Raumanzug, sondern einer nach Fetish-Event und Mittelalter-Basar duftenden Garderobe. Doch wie heißt es so passend auf den ebenfalls zu erwerbenden Christbaumkugeln: "Walking In A Numan Wonderland".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare mit einer Antwort
gute Wahl lieber Schuh, nur Liebe für Gary Numan. ♥
Gary kann man nur lieben... ♥ Sogar Schnurz, wenn viel von seinem Material eher so lala ist.
Na endlich mal ein echter Meilenstein.
Obwohl mir persönlich die "Living Ornaments´79", speziell aber die einzigartige "Living Ornaments´80" deutlich lieber sind - und auch heute noch sehr mein Herz berühren: Ein echt herausragender Meilenstein. Vielen Dank!