laut.de-Kritik

Der Stoff, aus dem B-Boy-Träume sind.

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Nach Umwegen über Berlin und New York residiert Jamie Lidell inzwischen in Nashville. Der Umzug nach Tennessee schlägt sich tatsächlich in seinem Sound nieder - allerdings anders, als der erste Gedanke vermuten lässt.

Dabei wäre einem musikalischen Freigeist seines Kalibers ohne Weiteres zuzutrauen, dass er sich einen Cowboyhut über die Rübe stülpt, Kühe über den Zaun muhen lässt und mit der Fiedel durch den Heuschober springt. Für sein selbstbetiteltes Album wählt Lidell dennoch einen anderen Weg.

Was zum Teufel macht also ein Musik-Nerd in der Welthauptstadt des Country? Nun, erst einmal auspacken: "Ich konnte endlich mein ganzes Equipment ausbreiten, das ich früher hochkant lagern musste", entdeckt Jamie Lidell die neuen Möglichkeiten.

Er hat jetzt buchstäblich den Platz dafür, sein Faible für analoge Uralt-Synthesizer in epischer Breite auszuleben. Klar, dass man das hört. Statt, wie einst auf "Multiply" an Marvin Gaye oder Otis Redding zu gemahnen, gräbt "Jamie Lidell" ganz andere Erinnerungen aus.

"Electricity around us, baby": Diese Platte schwelgt nur so im Elektro-Funk der frühen 80er Jahre. Die Jonzun Crew und Afrika Bambaataa tanzen im Kopfkino Ringelreihe. "No parking on the dancefloor", mahnen Midnight Star dazu.

Jamie Lidell kredenzt den Stoff, aus dem B-Boy-Träume gemacht sind. Wo stecken eigentlich all die Breaker? Leicht vorstellbar, dass der Electro-Boogie auf "Jamie Lidell" mit selbigem als Vorreiter die Tänzer-Zombies wieder aus ihren Löchern lockt - "Thriller"-Style.

"You got to take back control", fordert der Eröffnungstrack "I'm Selfish" - als ob Jamie Lidell die Kontrolle über seine Regler jemals verloren hätte. Seine musikalischen Einfälle dagegen lassen sich weit schwerer beherrschen. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Hühner rennen sie mal hier-, mal dorthin.

Jamie Lidell stopft Synthies, Soul und eine Handvoll Disco-Kugeln in einen Topf. Cowbells dürfen mit, ein windschiefes Piano, pixeliger Computerspiel-Sound, Fingerschnippen, die gute alte Talkbox, in "Big Love" mit Gesängen und Händeklatschen sogar eine Ahnung von Gospel. Dazu, als Emulgator, eine Überdosis Groove. Umrühren, fertig.

Angesichts der wüsten Mischung höchst erstaunlich, dass die Resultate nur in wenigen Momenten fahrig, sprunghaft oder unentschlossen wirken. Nicht mehr ganz so eingängig zwar, wie etwa auf "JIM", aber auch längst nicht so sperrig und verquer wie noch zu "Muddlin Gear"-Zeiten, dreht "Jamie Lidell" dennoch an jedem verfügbaren Rad.

Anders, als auf dem direkten Vorgänger "Compass", verzichtet Jamie Lidell diesmal auf die zahlreichen Kollaborationen. Jemand, in dessen Hals, Hirn und Herz ganz offensichtlich Prince, Stevie Wonder und George Clinton wohnen, braucht aber auch wirklich nicht noch mehr Beistand. Wäre ja unfair.

Trackliste

  1. 1. I'm Selfish
  2. 2. Big Love
  3. 3. What A Shame
  4. 4. Do Yourself A Faver
  5. 5. You Naked
  6. 6. why_ya_why
  7. 7. Blaming Something
  8. 8. You Know My Name
  9. 9. So Cold
  10. 10. Don't You Love Me
  11. 11. In Your Mind

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