laut.de-Kritik
Der Soundtrack zu einer verwitternden Vision.
Review von Max BrandlZur Begriffsklärung: Fordlândia bezeichnet eine Geisterstadt in Amazonien, verwitterndes Relikt einer industriellen Vision und Zeitzeuge menschlichen Scheiterns zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Autohersteller Ford stampfte damals zum Zweck der Kautschukgewinnung inmitten des Dschungels eine künstliche Stadt aus dem Boden, gab Eingeborenen Ausweise und Cheeseburger an die Hand und erhoffte sich davon Rohstoff-Unabhängigkeit für die Reifenproduktion. Das Projekt misslang, synthetischer Gummi ward erfunden, die Stadt aufgegeben und letzten Endes sich selbst überlassen.
Der Isländer Jóhannsson nimmt dieses ambitioniert-traurige Stück Zeitgeschichte und reiht es nach "IBM 1401, A User's Manual" als zweites Werk in seine geplante Trilogie zur Troika Mythos-Mensch-Maschine ein. Neben Reykjavíker Musikern bediente er sich dazu unter anderem des Prager Orchesters, nahm in höhlenartigen norwegischen Kirchen auf und ließ sich von Drone-Doom-Bands wie Sunn O))) oder den abseitigen Weltformel-Theorien des Physikers Burkhard Heim inspirieren.
Er verdichtet diese weitläufigen Komponenten zu einem Soundtrack, der den Hörer für eine gute Stunde hinaus begleitet auf ein zugefrorenes Meer aus schwebender Melancholie und verkappter Hoffnung. Majestätische Flächen, kristalline Anmut und prachtvolle Dramatik, hymnisch getragen vom Nachhall in Schwingung versetzter Ruhe. Selten hat mich eine klassische Instrumentierung derart gefesselt und mir im selben Moment die Augen geöffnet – obwohl ich sie doch die ganze Zeit geschlossen hatte. Dies hier sind wahrlich orchestrale Manöver im Dunkeln.
Einzelne Stücke zu besprechen ergäbe keinen Sinn: Wer dieses Werk hören will, sollte sich die Zeit nehmen, um die es einen bittet – der Weg ist hier tatsächlich das Ziel. Einzig das Stück "Chimaerica" gerät ein wenig zur Badehose im Nordpol-Reisekoffer: Das bigotte Kirchenorgan hebt sich zwar nicht wirklich störend, aber doch überraschend kathedral aus dem streicher- und bläserdominierten Opus heraus. Das Gesamtbild pointiert der Lautmaler mithilfe minimalinvasiver Elektronik.
Jóhann Jóhannsson selbst fasst "Fordlandia" so zusammen: "Ich empfinde das Album als einen Film mit zwei separaten Handlungssträngen, die anfangs nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen – außer auf eine poetische Art." Ich wage zu behaupten: Gäbe es hierzu tatsächlich einen Film, er käme ohne Dialoge, geschweige denn Darsteller aus. Aber der wird ohnehin nicht gebraucht, denn "Fordlandia" projiziert auch ganz ohne Kino phantastische Bilder in den Kopf.
4 Kommentare
Macht interessiert. Aber die zwei fehlenden Punkte in der Bewerung kann ich im Text nirgends finden.
probably. Pitchfork hat es trotzdem besser begründet:
@Pitchfork (« As comfortable as Jóhannsson is working with his orchestra, Fordlândia's wisest moments are its smallest: the embers of "Chimaerica", the swamp-reeds of the interspersed "Melodia" pieces. By comparison, the "Fordlândia" trilogy is simultaneously skillful, gorgeous, and a bit too polished-- they're a pristine composition on a record full of them, but it doesn't gel with the messy, self-destructive historical footnotes that inspired them. »):
Klingt irgendwie verdächtig nach 4 bis 5 punkten...aber egal...macht Lust aufs Reinhören
Mein persönliches Liebslingsalbum von ihm. Sehr schwermütig, aber nicht schwerfällig. Sehr melancholisch, sehr schön.