laut.de-Kritik

Protzig, aggressiv, zuckersüß: Ein Album voller genialer Widersprüche.

Review von

Kanye West hat zwei schwere Jahre hinter sich. Erst das belächelte, stellenweise gezwungene "808's & Heartbreak", dann der Eklat bei den MTV Music Awards 2009, als er Taylor Swift während ihrer Dankesrede unterbrach und öffentlich Beyoncé als wahre Siegerin der Kategorie "Best Female Video" feierte. Der Vorfall passte ins Bild des arroganten Schnösels, dem der phänomenale Erfolg der ersten Alben zu Kopf gestiegen ist.

Für seinen Charakter wird Kanye West schon lange nicht mehr geliebt. Für sein musikalisches Schaffen dafür um so mehr. Seit Jahren erstaunt er den geneigten Hörer mit bis zur Perfektion zusammengeschraubten Samples. Eine Vollkommenheit, die so unantastbar ist, dass sie mittlerweile beinahe langweilig wirkt. Gestriegelte Eintönigkeit ist wohl der Nenner, unter den sich seine letzten beiden Platten am ehesten subsumieren lassen.

Zeit, der Welt etwas zu schenken, was sie aus den Socken haut, mag sich der Geschmähte in seinem Exil auf Hawaii nun gedacht haben, nachdem ihn selbst US-Präsident Obama als "Idioten" bezeichnete. Zeit, der Welt "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" mitzuteilen. Zeit, der Welt das Rohe in Kanye West zu offenbaren.

Vorweg: Die Phase, in der der Meister vermeintlich innovative, minimalistische Beats samt Autotune-Gefrickel baute, sind vorerst vorüber. "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" ist protziger als seine Vorgänger. Die Platte wirkt auf den ersten Blick weniger durchdacht, eher plump ("Monster"), teilweise aggressiv einfordernd ("Power ft. Dwele"), dann wieder zuckersüß entspannt ("Blame Game ft. John Legend").

Selbstverständlich kennt auch das neueste Werk in Wahrheit keine Zufälle. Jede der 4116 Sekunden unterliegt dem Kalkül, den Hörer eiskalt zu überrollen. Verzerrte E-Gitarren wechseln sich mit Geige und Piano ab, Fanfaren, wenn nötig knarzende Synthies – Kanye West ist sich in seinem Schrei nach Aufmerksamkeit für nichts zu schade. Und er gewinnt: Den Hörer mit seinen rumpelnden Bässen und Drums, den Respekt der Masse mit einer weiteren Scheibe, die fern jeder Kritik liegt.

Denn sie genügt universellen Ansprüchen. Poppig genug, um den durchschnittlichen Hörer nicht zu verschrecken, mit gesundem Abwechslungsreichtum, um den Kenner zu begeistern und so atmosphärisch, dass sie beide fesselt. Zwischen typischen Feature-Rap-Tracks der alten Schule wie "Monster" mischen sich pathetische Epen, wie das von einem schweren Manfred Mann-Sample getragene "So Appelled".

Auf Hymnen wie "Runaway ft. Pusha T" folgen dröhnende, absichtlich übersteuerte Titel wie "Hell Of A Life", neben den Rap-Megastars RZA und Jay-Z reiht sich Indie-Folker Bon Iver ein. Nach dem oberflächlichen R&B-Püppchen Rihanna ("All Of The Lights") melden sich tiefsinnige Poeten wie Gil Scott-Heron zu Wort ("Who Will Survive In America"). "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" ist so widersprüchlich wie Kanye Wests Ruf. Erst zusammengepuzzelt ergibt die Platte ein wirklich vollkommenes Bild – dieses Mal ohne gestriegelt oder eintönig zu sein.

Trackliste

  1. 1. Dark Fantasy
  2. 2. Gorgeous ft. Kid Cudi & Raekwon
  3. 3. Power ft. Dwele
  4. 4. All Of The Lights (Interlude)
  5. 5. All Of The Lights
  6. 6. Monster ft. Jay-Z, Rick Ross, Nicki Minaj & Bon Iver
  7. 7. So Appalled ft. Jay-Z, Pusha T, CyHi Da Prynce, Swizz Beatz & The RZA
  8. 8. Devil In A New Dress ft. Rick Ross
  9. 9. Runaway ft. Pusha T
  10. 10. Hell Of A Life
  11. 11. Blame Game ft. John Legend
  12. 12. Lost In The World ft. Bon Iver
  13. 13. Who Will Survive in America

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